Süddeutsche Zeitung

Timo Feldhaus: "Mary Shelleys Zimmer":Und was ist mit Beethoven?

Timo Feldhaus besichtigt 1816, das Jahr, das auf den berühmtesten Vulkanausbruch der Geschichte folgte, und in dem nicht zufälligerweise Frankenstein geboren wurde.

Von Harald Eggebrecht

Die Mode jener Bücher hält an, deren Stoff sich aus den mehr oder weniger zufälligen Ereignissen eines Jahres speist und deren pure Gleichzeitigkeit manchmal reizvolle Projektionen auf Personen und Geschehnisse liefern kann, ohne deshalb schicksalhaft zwingend zu sein. Auch Timo Feldhaus verfährt so in "Mary Shelleys Zimmer": "Als 1816 ein Vulkan die Welt verdunkelte", lautet der Untertitel. So arrangiert Feldhaus Mary und Percy Shelley, Lord Byron und Johann Wolfgang Goethe, Caspar David Friedrich und Napoleon, Thomas Stamford Raffles, den Gründer von Singapur, nicht zu vergessen, um den Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien 1815. Tatsächlich gilt diese Eruption als die bisher gewaltigste in der Menschheitsgeschichte, deren Auswirkungen auch die meteorologischen Verhältnisse in Europa und Amerika massiv beeinflusste, aus Sommer Winter machte, den Himmel verdüsterte, Ernten im Dauerregen verkommen ließ mit allen dramatischen Folgen für Mensch und Tier weltweit.

Dass es daher 1815 in Waterloo goss, mag stimmen, doch Napoleons Niederlage lässt sich dennoch nicht unmittelbar und allein vom Tambora-Ausbruch ableiten, ebenso wenig wie Goethes Beschäftigung mit den epochemachenden Wolkenbeobachtungen und -theorien von Luke Howard. Auch die anderen historischen Gestalten schillern aus sich selbst vielfarbig genug, von bengalisch-dämonisch wie Lord Byron bis zu deutschbraun wie der rasende Nationalist und Antisemit Turnvater Jahn. Sogar Franz Schubert hat im Figurentheater von Timo Feldhaus einen Cameo-Auftritt, den man genausogut und verlustfrei überlesen kann. Daher könnte man zwanglos auch fragen: Was machte Beethoven eigentlich im Vulkansommer 1816? Das kommt aber bei Feldhaus nicht vor, warum auch.

Neues Leben mit freier Liebe in alle Richtungen

Dass Feldhaus seinen wahrlich imposanten Protagonisten so nah auf ihren jeweiligen Pelz und Bauch rückt, dass man unschöne Flecken zu entdecken und das Kollern der Gedärme zu hören meint, macht sie übrigens keineswegs menschlicher, sondern unverdient banaler und erkenntnisarm ähnlicher.

Zum Glück hält sich Feldhaus als Leitfigur durch sein vielsplittriges Panoptikum an Mary Shelley, geborene Godwin, die im Laufe dieses Buches ihren weit in die Zukunft reichenden vom Baron Frankenstein geschaffenen neuen Menschen erfindet mit ihrem Roman "Frankenstein". Ausgangspunkt dafür ist ein typisches Lord-Byron-Spiel: Wer schreibt die beste Horrorgeschichte?

Die englische Dichtergruppe hat sich am Genfer See eingenistet, ein neues Leben zu leben mit freier Liebe in alle Richtungen. Dazu gehören Gleichberechtigung, Freiheit von Familienbanden, Ungezwungenheit der Manieren und Entfaltung der je eigenen Kreativität. Feldhaus gelingt es, Mary Shelleys Staunen über Leben und Welt, ihr Fantasieren in die Zukunft hinein und über die eigene Blase hinaus, ihre Spiellust und spontane Neugier, ihre Gefühlsschwankungen und Grübeleien über sich und die anderen leichtfüßig zu erzählen: "Die Zeit verschwamm und Mary wusste nicht, ob es gestern oder vor zwei Wochen gewesen war, als sie mit dem Boot hinausgefahren waren, Claire hatte auf der Gitarre gespielt, Percy die elegischsten Gedichte seines geliebten William Wordsworth rezitiert, Byron albanische Lieder gesungen und geheult wie ein wilder Hund in einer europäischen Wüste, wenn es so etwas überhaupt gab. Es waren Tage wie im Flug, in denen Percy mit Claire ging und Mary mit Byron, und alles war offen."

Ansonsten hängen über dem Sommer am Genfer See eben dieselben düsteren Regenwolken wie über Goethes Weimar oder Caspar David Friedrichs immer einsameren Landschaften und Horizontblicken bei pompösen Sonnenuntergängen à la Tambora. Übrigens malte derweil William Turner in England ebenfalls orgiastische Sonnenuntergänge, doch er kommt bei Feldhaus nicht vor.

Was für dieses Buch trotz mancher Zweifel am problematischen Kompositionsprinzip der Parallelen aber einnimmt, ist sein empathischer Tonfall. Feldhaus verrät seine Helden nicht ans nur Unterhaltsame oder monströs Interessante, sondern versucht, ihnen je einigermaßen gerecht zu werden, ohne sie dabei wieder fern zu rücken durch akkurate Lexikalisierung. Das Revolutionäre dieser Dichter- und Künstlergruppe inmitten einer Welt, in der die große Diktatur Napoleons zusammenbrach und die Restauration gekrönter Häupter wieder ungut lange Urständ feierte, kommt also ganz gut und zuteilen amüsant heraus.

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