Afrika:Voltaire lesen in Timbuktu

Timbuktu

Klassiker aus der Antike und aus Frankreich sind bei den Leserinnen beliebt, vor allem aber Bücher über die glorreiche Vergangenheit ihrer Stadt.

(Foto: Jonathan Fischer)
  • Bis vor kurzem war die Wüstenstadt im Norden Malis das Zentrum der afrikanischen Wissenschaften - dann fielen Islamisten ein.
  • Sie verbaten jede weltliche Musik, zwangen die Frauen, sich zu verschleiern, zerstörten Heiligengräber und Bibliotheken.
  • Zwar hatte eine Militäroffensive die Stadt nach nur einem Jahr wieder befreit, dennoch wirkte die Besatzung nach. Junge Menschen praktizieren nun den kulturellen Widerstand: Sie lesen.

Von Jonathan Fischer

Noch ein Selfie bitte! Aisha, Aminata und ihre Freundinnen reichen sich gegenseitig Handys, um Fotos mit den Besuchern zu machen. Nachdem die bunten Hijabs zurechtgezupft sind, stecken die jungen Frauen kichernd ihre Köpfe zusammen. Gäste, erst recht Touristen aus dem Westen, sind in Timbuktu inzwischen eine Seltenheit.

"Wollen Sie vielleicht auch unsere Bibliothek besichtigen?" fragt die 16-jährige Mariam. Fast jeden Tag, sagt sie, treffe sie sich hier nach der Schule mit anderen Jugendlichen. Um zu lesen, sich neues Wissen anzueignen, über Romane und ihre Autoren zu reden. An dem flachen Lehmgebäude hängt ein Banner: "Lecture Vivante - Centre de Lecture et de la Promotion de Patrimoine Culturel." Zu Deutsch "Lebende Lektüre - Zentrum zur Lektüre und Förderung des kulturellen Erbes". Wo sonst in Afrika sollte Literatur auch selbstverständlicher sein? 1997 war der afroamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaftler Henry Louis Gates von der Harvard University nach Timbuktu gekommen, um dort angesichts der alten Manuskripte in Tränen auszubrechen. Er hatte sein Leben lang gelehrt, dass Afrika eine mündliche aber keine schriftliche Tradition habe, um nun eines Besseren belehrt zu werden. Anschließend mobilisierte er westliche Geldgeber, die vor Ort ein hochmodernes Literaturarchiv errichteten und viele Millionen in die Erhaltung und Konservierung der historischen Schriften dieser Stadt investierten.

"Lecture Vivante" aber zielt auf eine neue Generation. Jugendliche, die sich mit Handys besser auskennen als mit Büchern. Die Brisanz dieses Lesezirkels erschließt sich erst über die jüngste Geschichte Timbuktus. 2012 hatten religiöse Fanatiker die seit dem 11. Jahrhundert als Zentrum von Religion und Wissenschaft bekannte Stadt am nördlichen Bogen des Niger besetzt. Die Dschihadisten führten ein unbarmherziges Regime. Sie verbaten jede weltliche Musik, zwangen die Frauen, sich zu verschleiern, zerstörten Heiligengräber und Bibliotheken. Bei ihrem Abzug verbrannten sie Hunderte von alten Manuskripten. Die traditionelle Toleranz und Weltoffenheit der als "Heimat der 333 Heiligen" verehrten Stadt war den Dschihadisten ein Dorn im Auge. Zwar hatte eine von Frankreich geleitete Militäroffensive die Stadt nach nur einem Jahr wieder befreit. Doch die Folgen der Besatzung bleiben katastrophal: Entführungen und Attentate gehören seither zum Alltag. Der Tourismus, früher entscheidender Wirtschaftsfaktor der Region, ist verschwunden. Lediglich eine löchrige Buspiste und ein paar Militärflüge pro Woche verbinden die Stadt mit dem Rest der Welt. Während die Ideologen des Dschihad um die arbeits- und hoffnungslosen Jugendlichen werben. Da können Bücher viel bedeuten.

Der Forscher Heinrich Barth widerlegte in Timbuktu das Vorurteil vom kulturlosen Afrika

Der Jugendtreff von "Lecture Vivante" liegt in einer symbolträchtigen Nachbarschaft. Gleich um die Ecke ragen die ockerbraunen Mauern und Minarette der legendären Djingere-ber-Moschee auf, ein paar Hundert Meter weiter kann man am "Place Heinrich Barth" die Häuser besichtigen, in denen einst die europäischen "Entdecker" der Wüstenstadt logierten: Der englische Offizier Alexander Laing hatte Timbuktu im Jahre 1826 nach Jahrzehnten gescheiterter Expeditionen als erster erreicht. Ihm folgte zwei Jahre später - als Muslim verkleidet - der Franzose René Caillié. Letztlich aber war es der Hamburger Forscher Heinrich Barth, der hier in den Jahren 1853 bis 1854 eine ganze Welt der Wissenschaft entdeckte und ausführlich über die literarischen Schätze Timbuktus berichtete. Eine Sensation. Denn die jahrhundertealten Schriften widerlegten alle Vorurteile vom angeblich kultur- und geschichtslosen Kontinent Afrika.

Timbuktu wirkt heute verschlafen: Eselsgespanne zuckeln durch die Gassen. Ein paar ältere Männer sitzen im Schatten eines Baumes und gießen sich Minztee ein. Nur ab und zu durchbricht das Knattern eines Mofas die Stille. "Dies ist ein Hoffnungsort für unsere Jugendlichen", erklärt Mahamane Sangaré, der junge Leiter der Organisation "Lecture Vivante" vor der Pforte seiner Bibliothek. "Wir sitzen auf einem literarischen Schatz. Aber wer bringt den jungen Menschen hier ihre Geschichte bei, lässt sie lesen, vermittelt ihnen den Wert von Büchern an sich?"

Timbuktu

Rund hundert Bücher hat die Organisation „Lecture Vivante“ anzubieten.

(Foto: Jonathan Fischer)

Sangaré spricht mit leiser Stimme, ein weißer Turban rahmt sein rundes, freundliches Gesicht. Knapp 60 Jugendliche hat der gelernte Finanzbuchhalter bisher für seinen Lesezirkel gewonnen, das Gros von ihnen junge Frauen. Besuche der historischen Bibliotheken stehen auf dem Programm. Vor allem aber, erklärt der 31-jährige Gründer von "Lecture Vivante", gehe es um die Konfrontation mit einer Welt voller neuer Ideen, wie etwa die gesellschaftliche Mitsprache von Jugendlichen, die Rechte der Kinder und die Selbstverwirklichung der Frauen. "Du bist in aller Welt gefeiert" zitiert er aus einem Timbuktu-Gedicht einer seiner Schülerinnen, "weil in deinen Mauern der freie Gedanke regiert".

Die freien Gedanken. Sie werden heute durch nicht viel mehr als rund hundert Bücher repräsentiert. Stolz zeigt Mariam das schmale Regal im verschatteten Rückraum des Zentrums. Der ganze Reichtum der örtlichen Lesejugend: Sokrates steht auf einem Buchrücken. Auch die französischen Klassiker Molière und Rousseau sind vertreten. Dazu ein paar Bände Paulo Coelho, Lebenshilfe von Dale Carnegie, die Auswahl ist bescheiden. "Das ist unsere schwierigste Aufgabe", sagt Sangaré. "Bücher zu finden. Vor allem illustrierte Kinderbücher, Sachbücher, Romane, aus denen unsere Jugendliche etwas lernen."

Dass jeder Band schon einige Dutzend Leser gehabt hat, ist offensichtlich. Viele von ihnen stammen noch aus der Zeit, als Timbuktu das Mekka westlicher Sahara-Reisender darstellte. Seine eigene Liebe zur Literatur, erinnert sich Sangaré, habe er über seine Onkel entdeckt, die als Guides arbeiteten und die von den Touristen hinterlassenen Bücher mit nach Hause brachten: "Ich fing als Kind an, darin zu lesen. Und fand dabei neue, faszinierende Gedankenwelten. Seitdem möchte ich meine Leidenschaft mit anderen teilen." Mariam, Aisha, Aminata nicken. Welche Autoren sie am liebsten lesen? Victor Hugo, Voltaire, Paulo Coelho . "Wir lieben auch die Geschichte unserer Stadt." Eines der Mädchen hält ein Buch von Salem Ould El Hadj hoch: "Mystères de Tomboctou".

Der Autor, ein örtlicher Historiker, liest heute persönlich vor. "Wir dürfen nicht vergessen, dass dieses Viertel hier, Sankoré, einst das Zentrum der wissenschaftlichen Aktivität unserer Stadt war", sagt er. "Bis nach Ägypten und Arabien reisten unsere Gelehrten und Forscher. Sie haben Bücher über den Koran, aber auch über Mathematik, Astronomie und Geschichte geschrieben." Die Jugendlichen im Bibliotheksraum von "Lecture Vivante" hängen an den Lippen des alten Mannes.

Sie lehrten hier früh schon Mathematik, Astronomie, Geografie, Geschichte, Medizin und Recht

"Wer könnte so einfach eine jahrtausendealte Kulturtradition per Verbot erledigen?" Jeder weiß, dass von den Dschihadisten die Rede ist, und ihrem Versuch, die Geschichte umzuschreiben. "Sie wollten an unserer Stadt ein Exempel statuieren. Weil Timbuktu eine symbolische Bedeutung hat." El Hadj erzählt von der Konkurrenz unter Dutzenden örtlicher Koranschulen oder "Universitäten", von der Pilgerfahrt des legendären malischen Königs Mansa Musa im Jahr 1325, als er eine sechzigtausendköpfige und mit zwei Tonnen Gold beladene Karawane nach Kairo und Mekka führte und auf dem Rückweg Tausende Gelehrte an den Niger brachte. Von den unschätzbar wertvollen Bibliotheken mit illustrierten Schriften zu Fragen nicht nur der Religion, sondern auch der Mathematik, der Astronomie, Geografie, Geschichte, Medizin und Rechtsprechung.

Es war die politische Apathie seiner jungen Mitbürger, die den damals 25-jährigen Sangaré 2013 motivierte, "Lecture Vivante" ins Leben zu rufen. Die Dschihadisten waren zwar abgezogen, doch die Einwohner standen noch unter Schock. Musiker, Künstler und Intellektuelle waren in den Süden des Landes oder ins Exil geflohen. Der einst enge soziale Zusammenhalt in der Stadt hatte unter dem Misstrauen zwischen den Ethnien gelitten. Was könnte Timbuktu helfen, aus dieser Trance zu erwachen? "Wir haben damals festgestellt", sagt Sangaré, "dass sich unsere Jugend weder lokal noch national politisch engagiert, und dass das vor allem an einem Mangel an Lektüre und Information liegt." Die Organisation "Lecture Vivante" sollte das ändern.

"Wer sich bildet, der fällt nicht so leicht extremen und wissensfeindlichen Ideen zum Opfer", sagt Sangaré. Bezeichnenderweise fand Sangaré gerade in Abdel Kader Haidara, dem weltberühmten Bibliothekar aus Timbuktu, einen potenten Verbündeten. Haidara hatte 2012 während der Besatzung der Stadt die heimliche Evakuierung der Manuskripte nach Bamako organisiert. Nun sollte die von ihm geführte NGO Savama DCI zum Hauptsponsoren der Association Lecture Vivante werden, es ihr ermöglichen, nicht nur das Zentrum in Timbuktu sondern auch Ableger in Bamako und abgelegenen nordmalischen Ortschaften wie Goundam, Tonka, Niafunké oder Diré zu eröffnen. "Wir brauchen junge Menschen, die unsere demokratische Kultur verteidigen." Er sagt das aus tiefer Überzeugung: "Lesen stärkt die Jugendlichen in ihrer Fähigkeit zu Empathie, Zuzuhören, zu Verzeihen, sich für Gerechtigkeit einzusetzen." Deshalb organisieren Sangaré und seine Mitstreiter an den örtlichen Schulen regelmäßig Debattier- und Lesewettbewerbe. Mit der Initiative "Bibliothèque sans murs" besuchen die Jugendlichen von "Lecture Vivante" Familien in ihren Häusern und verteilen auf den Straßen Bücher an interessierte Kinder. Sangarés Begeisterung wirkt ansteckend. So schafft er es immer wieder, auswärtige Autoren - Anschlagsgefahr hin oder her - für Lesungen nach Timbuktu zu bringen.

Timbuktu

Salem Ould El Hadj, Autor von "Mystères de Tomboctou", vor der Bibliothek von "Lecture Vivante" in Timbuktu.

(Foto: Jonathan Fischer)

Jedes der Mädchen bei der Lesung hat einiges von dem, was die Romanheldin durchmacht, selbst erlebt

Eine davon ist die junge Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Sadya Touré. Sie stammt aus Timbuktu, pendelt in ihrem Berufsleben aber zwischen Bamako, Paris und New York. Sangaré hatte sie zur "Dune Litteraire" geladen, eine Serie von Lesungen unter freiem Himmel. Gut fünfzig junge Frauen und Männer sitzen im lauen Abendwind auf einer der Sanddünen am Stadtrand von Timbuktu, den Blick auf den Süßwasserkanal, der die Stadt mit dem Niger verbindet. Weiter hinten glänzt die Silhouette der Djingere-ber-Moschee. Eine märchenhaft anmutende Szenerie, wäre da nicht diese erschütternde Geschichte einer jungen Frau namens Alima Touré. Sadya Touré liest aus ihrem ersten Roman "Être une Femme Ambitieuse au Mali" oder "Was es bedeutet, eine ehrgeizige Frau in Mali zu sein". Als Mädchen gegen den väterlichen Willen von den eigenen Verwandten beschnitten, später im Gegensatz zu ihren Brüdern zu "typisch weiblichen" Haushaltstätigkeiten angehalten, eine der besten Schülerinnen ihres Jahrgangs, die dennoch um den Besuch einer höheren Schule betteln muss, denn: "Es ist wichtiger, dass sie bald heiratet."

Es ist ihre kaum fiktionalisierte Autobiografie. "Warum", fragt Touré, "wollen die Männer, dass die Frauen zu Hause bleiben statt zu lernen? Und wieso bekommen Frauen, die Karriere machen wollen, so wenig Unterstützung? Geschweige denn Heiratsanträge?" Gelächter hinter vorgehaltener Hand. Jedes der Mädchen hat das eine oder andere, was die Romanheldin durchmacht, selbst erlebt. Am Ende übergibt Touré ihr Buch feierlich an die Bibliothek von "Lecture Vivante". Kein Zweifel, dass es bald sehr abgegriffen sein wird.

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