Ausstellung "Die neue Nähe" in Bremen:Alles schläft, einer arbeitet

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Die Wesen suchen die körperliche Nähe: Tim Eitel, "Les Peintres" (2021, Detail). (Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Uwe Walter, Berlin/Galerie Eigen + Art)

Intime Feier der Zwischenmenschlichkeit: Eine Schau in Bremen zeigt Tim Eitel als Chronisten der Corona-Epidemie.

Von Till Briegleb

Es war schon immer sehr viel Ruhe in den Bildern von Tim Eitel. Als ein Künstler, der sehr langsam malt, weil er so viel Zeit damit verbringt, in seinem Atelier die verschiedenen Stadien des Bildfortschritts anzustarren, ist das Kontemplative seit 20 Jahren wesentlich für die Atmosphäre seiner Gemälde. Als dann Covid das Leben extrem verlangsamte und gleichzeitig erschöpfte, war es ein logischer Schritt für den Stuttgarter Bilderzähler mit Heimat in Paris, dass er Schlafende malt. Eine ganze Serie von Träumenden schuf Eitel in den langen französischen Lockdown-Phasen, wo er seiner gewohnten Arbeit der Bildentwicklung nicht nachgehen konnte.

August Strindberg hält hier ein Nickerchen auf einem riesigen Kissen

Sucht Eitel sonst Eindrücke von Straßenszenen, Museumsbesuchen, Spaziergängen und persönlichen Begegnungen in seiner Malerei zu rekonstruieren, indem er viele Fotos aufnimmt, aus denen er dann Versatzstücke auf der Leinwand kombiniert, stahl der Virus ihm die Räume für seine Motivsuche und zwang ihn zur häuslichen Inspiration. Und deswegen ist der Auftaktraum seiner neuesten Ausstellung im Bremer Paula Modersohn-Becker Museum mit dem Titel "Die neue Nähe" ein Schlafsaal.

August Strindberg hält hier ein Nickerchen auf einem riesigen weißen Kissen, drei brünette "Malerinnen" drängen sich in einer müden Szene aus dem Stadium freundschaftlicher Zärtlichkeit über die Schwelle zum bekleideten Ausruhen. Eitels Lebensgefährtin und ihr Hund haben die Augen geschlossen auf einer weißen Bettwäsche mit Rosendruck. Und auf dem neuesten Großformat von 2022 dominiert das blau-weiße Muster eines Plümos die "Siesta" einer verwuschelten Frau in einer enormen Landschaft aus weichen Schlafzimmerstoffen. Alles schläft, nur einer arbeitet: der Chronist der Corona-Epidemie, der sie als Fluchtraum sanfter Innerlichkeit zeigt.

Schöner schlafen: "La Sieste" von Tim Eitel. (Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Jean-Louis Losi (Tim Eitel, La Sieste, 2022, Öl,))

Diese geradezu intime Feier der Zwischenmenschlichkeit zeigt tatsächlich eine neue Energie in der langjährigen Beschäftigung Eitels mit dem entrückten Mensch. Seit er 2001 die prägende Ausbildung an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst verlassen hat, wo Maler wie Arno Rink und Sighard Gille einer ganzen Generation die unendlichen Möglichkeiten der gegenständlichen Malerei beibrachten, ist er berühmt für die Rückenansicht der Seele. Obwohl er fast immer Menschen malt, bannte er sie stets in einer ernsten Empfindung der Unnahbarkeit, der Melancholie und der Abkehr.

Die neue Nähe in Eitels Malerei hat das Besorgniserregende fast ganz verscheucht

In abstrakten und detailarmen Landschaften oder isoliert in Innenräumen, deren Mobiliar auf das Wesentliche reduziert wurde, verloren in albtraumhaften Situationen der Leere oder allein im Museum wirkten die Subjekte von Eitels Interesse stets gehemmt von Gefühlen, die ihnen keine Einladung zu einer Party bescheren würden. Verschlossen, konzentriert auf innere Monologe, den Blick gesenkt und Augenkontakt zum Betrachter vermeidend, reihten die typischen Eitel-Persönlichkeiten sich ein in eine lange Generationenfolge introvertierter Menschheitsstudien, die von Caspar David Friedrich über Gerhard Richter bis zu Michaël Borremans reicht. Und die bei aller Faszination für das In-Sich-Gekehrte stets eine Verbindung zwischen der besonderen Sensibilität melancholischer Menschen und dem Unheimlichen herstellte.

Die neue Nähe in Tim Eitels Malerei, die sogar zarte Andeutungen eines Lächelns erlaubt, hat das Besorgniserregende jetzt fast ganz verscheucht. Zehn quadratische Porträts, die er erstmals nicht von Fotos, sondern in Sitzungen, die nicht länger als zwei Stunden dauern durften, von Bekannten gemalt hat, blicken gerade und unverwischt dem Betrachter entgegen. Die lange Staffel der Rückenbildnisse, die so prägend für seine Malerei geworden ist, findet nur eine einzige Weitergabe in zwei hockenden Männern beim Aufbau einer Ausstellung. Und ein Selbstzitat, das den schlafenden Strindberg als Einzelexponat in einem leeren Museumssaal zeigt, besitzt sogar Anflüge von Humor.

Tim Eitel in seinem Pariser Atelier. (Foto: Jean Francois DEROUBAIX/hemis.fr)

Erst bei dem Bild einer Schutzmantelmadonna, die ihren Umhang fürsorglich um die Christenheit zieht, kommt das Eitelsche Motiv menschlicher Einkehr, die sich vor Verletzungen zu schützen versucht, wieder symbolisch zum Vorschein. Aber dieses "Home" betitelte Bild, das wie so viele der neuen Motive durch eine Bruchkante geteilt ist, die mal monochrome Flächen, mal Spiegelungen oder eine minimale Verschiebung des Bildes folgen lassen, ist im Ausdruck der schützenden Gottesmutter trotzdem lieblich und zart. Der Stoff, der die Figuren umhüllt, wirkt als das Symbol der neuen Weichheit in Eitels jüngsten Gemälden. Die Wesen suchen die körperliche Nähe.

Kombiniert hat Tim Eitel sein neues Interesse für Berührungen mit Exponaten aus der Sammlung des Modersohn-Becker Museums in der Bremer Böttcherstraße. Die Namensgeberin des Kunsthauses ist vertreten mit einem Porträt ihres schlafenden Gattens Otto und einer abstrakten Mondlandschaft in Blickrichtung der zehn Porträts. Lucas Cranachs diverse Male reproduziertes Bildnis seines Freundes Melanchthon begleitet zudem die Reihe der für die Ewigkeit festgehaltenen Freunde Tim Eitels. Und eine geschnitzte Heilige Ursula von 1470, die in ihrem Schutzmantel die Ursulinen behütet, zeigt die mythische Begründerin der Mädchenerziehung als Stifterin der Milde.

Natürlich ist die große Vorsicht und stets angedeutete Fluchtbereitschaft in Tim Eitels Gegenwartsbeschreibung auch in dieser Nahbarkeit nicht verloren. Aber die kategorische Unberührbarkeit seines Menschenbilds rückt hier doch in weite Ferne.

"Die neue Nähe" , bis 2. September im Paula Modersohn-Becker-Museum Bremen.

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