Netzkolumne:Das falsche Leben ist echter

FILE PHOTO: Man walks past a sign of ByteDance's app TikTok, known locally as Douyin, at an expo in Hangzhou

Bunt: Die Welt von Tiktok.

(Foto: CHINA STRINGER NETWORK/REUTERS)

Authentizität? Nein, auf Tiktok zählt nur noch Unterhaltung.

Von Michael Moorstedt

Die Ärzte waren ratlos. In der Pandemie wurden sie immer häufiger von Teenagern aufgesucht, die unter Tics litten. Sprach- oder Bewegungsstörungen, zwanghaftes Zucken oder Zwinkern schienen weltweit zu grassieren. Erst nach einer Weile kam man dem Ursprung auf den Grund. Es seien, heißt es nun in einer Fachzeitschrift, wohl vor allem Kurzvideos auf der Plattform Tiktok verantwortlich. Dort werden entsprechende Inhalte inzwischen milliardenfach abgerufen. Die Jugendlichen hätten exakt jene Symptome entwickelt, die sie zuvor bei anderen Betroffenen im Internet gesehen hätten. Man empfehle, derartige Videos nicht mehr zu schauen.

Viele junge Menschen lassen sich vom Geschehen auf Tiktok also offenbar erheblich beeinflussen. Es liegt auch daran, dass eine zweite Meldung in der vergangenen Woche mitunter für Unbehagen gesorgt hat. Da war die Rede von sogenannten "fiktionalen Influencern". Gemeint ist, dass professionelle Schauspieler nach Drehbuch junge Leute spielen.

Dass die Figuren gespielt sind, stört die Fans keineswegs

Tiktok hat ohnehin schon ein fundamentales Glaubwürdigkeitsproblem. Da hilft es wenig, dass offen mit der fiktionalen Natur der Charaktere umgegangen wird. Die erzählten Geschichten sind jedenfalls immer etwas größer als das echte Leben, es geht um Dating-Apps, Outings vor den Eltern oder die Frage, warum die vermeintlichen Freunde die Charaktere plötzlich auf den sozialen Medien blockieren. Dieses kleine Quäntchen Drama scheint den Zuschauern schon zu genügen.

Dennoch interagieren viele Nutzer und Fans mit den fiktiven Charakteren. Sie geben Ratschläge oder erzählen ihre eigenen Geschichten über ähnliche Situationen. Die Kommunikation mit den Fans soll dann teilweise auch automatisiert mit einer leistungsfähigen Sprach-KI namens GPT-3 ablaufen. Das dafür verantwortliche Unternehmen Fourfront revolutioniere die Fernsehunterhaltung, jubelte deshalb ein Tech-Magazin. Und in der Tat könnten solche multidimensionalen Narrative ganz spannend sein, ginge es nicht nur wieder darum, ein paar Kooperationen mit zahlungskräftigen Werbekunden einzuheimsen. Dem Publikum ist es einerlei, es ist gewöhnt daran, bei so gut wie jedem Inhalt auf Social Media auch ein Produkt angepriesen zu bekommen.

In den Frühzeiten des sogenannten Web 2.0 gab es den prominenten Fall eines Videotagebuchs, das sich im Nachhinein als geskriptet herausstellte. Tausende litten mit Lonelygirl15, die im Netz über ihre dysfunktionale Familie klagte. Nachdem die Täuschung aufgeflogen war, waren die Fans empört und bestürzt. Unerhört schien es damals noch, dass die öffentlichen Foren für erfundene Inhalte benutzt werden. Heute ist Authentizität für das Publikum zum vernachlässigbaren Faktor geworden. Was zählt, ist nur die Qualität der Unterhaltung.

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