Vor einiger Zeit machte ein nettes Spiel auf Twitter die Runde. Die Nutzer sollten die Worte "Die Linke ist schuld, dass ..." schreiben und den Satz dann von den automatischen Wortvorschlägen ihres Smartphones vervollständigen lassen. Heraus kamen zum einen dadaistischer Wortmüll und zum anderen erstaunlich hellsichtige Zusammenfassungen des politischen Binnendiskurses.
Für ein paar Tage gab es deshalb großes Hallo und Gekicher, was darüber aber vergessen wurde, war, dass sich die von der Software vorgeschlagenen Wörter auch aus der eigenen Nutzungshäufigkeit speisen. Die Autokorrektur-Miniaturen sind also viel weniger ein cleverer Zeitgeistkommentar, sondern sagen im Gegenteil mehr über den User aus als über die Gesellschaft. Es geht nicht um eine objektive, wenn auch willkürliche Aussage über den Zustand der Linken oder der deutschen Politiklandschaft, sondern darum, wer wie mäandernd oder bestimmt kommuniziert.
"Tiktok kennt mich besser als die meisten meiner Freunde."
Der Moment, in dem der Mensch sich von lernfähigen Maschinen erkannt und wahrgenommen fühlt, ist längst Gegenstand von Selbsthilfe-Kolumnen, die das moderne Leben behandeln. Sie habe Angst vor der Person, von der Tiktok annimmt, die sie sei, schrieb die Journalistin Kaitlyn Tiffany vor Kurzem im Magazin The Atlantic. Denn die Inhalte, die ihr vorgeschlagen würden, seien "total abstoßend". Flach, sexistisch, fragwürdige Weltbilder transportierend, bestenfalls für einen schnellen Lacher gut.
Tiffany hat vor allem deshalb ein ungutes Gefühl, weil die Empfehlungsalgorithmen der Kurzvideo-Plattform berüchtigt dafür sind, enorm präzise zu sein und die Vorlieben der Nutzer innerhalb kürzester Zeit zu dechiffrieren. Seitdem er während der Pandemie so viel Zeit mit der App verbracht habe, schreibt der australische Autor Louis Hanson, sei er überzeugt, dass "Tiktok mich besser kennt als die meisten meiner Freunde".
Die Standardfloskel der Technologiekritik lautet, dass die Plattformen jene Zustände in ihrem Publikum verschärfen, die für sie profitabel sind. Sie geben der unausgesprochenen Unzufriedenheit, Langeweile und Einsamkeit der Menschen Form und Richtung, ohne sie tatsächlich zu lösen. Vielleicht ist diese Einschätzung aber auch viel zu deterministisch. Sobald ein algorithmischer Feed ins Spiel kommt, ist der Nutzer der einzige Grund dafür, dass die Inhalte auf diese Weise erscheinen.
Ist man wirklich so leicht zu durchschauen?
Was bedeutet es, wenn es sich so anfühlt, als wüssten Computersysteme und Algorithmen besser über den Nutzer Bescheid als er selbst? Selbstzweifel werden da laut. Ist man wirklich so unterkomplex und leicht zu durchschauen? Sind die eigenen Interessen und Befindlichkeiten wirklich so generisch? Offenbaren all die Ängste vor der Aufschlüsselung des Selbst nicht auch ein seltsam simples und fremdbestimmtes Menschenbild? Und was hindert den Nutzer eigentlich, sich den behavioristischen Mechanismen der Portale zu entziehen? Der Aus-Knopf ist doch trotzdem noch immer in Reichweite.
Man könnte den Spieß natürlich auch umdrehen. Und die Berechnungen der Algorithmen als Zerrspiegel wahrnehmen, als dunklen digitalen Zwilling, mit dem zu konfrontieren sich lohnt. Die Gelegenheit nutzen, sich zu hinterfragen. Geht man online, um Teil der Gesellschaft zu sein oder sich über sie zu beschweren? Steht man zu all den Bedürfnissen, die man da, alleine auf der Couch im Dunkeln liegend, ins Netz hinausspielt? Oder hat man schon viel zu lange den Eindruck, dass man auch eine bessere Version seiner selbst sein könnte? "Wer in Tiktok hineinstarrt, in den starrt Tiktok zurück", so hat es der Tech-Analyst Eugene Wei einmal schön ausgedrückt. Die Frage ist nur, ob man mag, was man dort sieht.