Deutsche Gegenwartsliteratur:Flippern ohne Freispiel

Innenansichten einer so patriarchalischen wie totalitären Ordnung: Tijan Sila verschlüsselt in seinem Roman "Die Fahne der Wünsche" die Geschichte der Macht in Jugoslawien.

Von Kristoffer Patrick Cornils

Ambrosio ist ein normaler Teenager, der in unnormalen Verhältnissen lebt. Der Vater tot, die Mutter psychisch labil, das Geld reicht kaum zum Leben. Der Junge hat aber gewöhnliche Interessen: Mit Bernardino spielt er gerne Flipper, er liest Comics und in der Schwimmerin Betty findet er eine Freundin, mit der er seine ersten sexuellen Erfahrungen macht. Als Radsportler schwingt er sich zum Besten seiner Altersklasse auf. Doch es gibt ein Problem, ein großes: Crocutanien, das Land, in dem Ambrosio aufwächst, ist ein totalitärer Staat.

Erst wird das Flippern verboten, dann werden Comics seltener und irgendwann wird einer der Flipperkumpanen mit aufgeschlitzter Kehle angeschwemmt. Ein Spitzel sei er gewesen, raunt man im Freundeskreis. Das Mitleid hält sich in Grenzen, Widerstand regt sich in der Jugend des Landes. Ambrosio gerät zwischen die Fronten. Seinen Spitznamen "Der Goldene" verdient er sich weniger, indem er Medaillen einheimst, als durch die Kronen, die seine Zähne ersetzen, nachdem sie ihm von den Schergen des Regimes, den sogenannten Mänteln ausgeschlagen worden sind.

Es sind, kurz gesagt, gefährliche Verhältnisse, in die Tijan Sila den Protagonisten seines zweiten Romans "Die Fahne der Wünsche" schleudert, um anhand seiner Geschichte eine ganz andere zu erzählen. Darunter leidet Ambrosio und manchmal auch ein Roman, dessen Handlung sich erst langsam entrollt. Die Nüchternheit, mit welcher sich in der Rahmenhandlung der ältere Ambrosio - er ist nach Jahren wieder nach Crocutanien zurückkehrt - an seine Jugend erinnert, wirkt nicht selten befremdlich. Er, der seine Wut über das Geläster über die seine Mutter jederzeit für sportliche Höchstleistungen aktivieren konnte, hat sie scheinbar unbekümmert ihrem Schicksal überlassen.

Und selbst als vor seinen Augen ein Blutbad angerichtet wird, dem auch ein Wegbegleiter zum Opfer fällt, bleibt Ambrosios Ton distanziert. "Fassung, Fassung, Fassung musste her", ermahnt er sich selbst und verpasst auch seinem Publikum eine Überdosis davon. Das mag daran liegen, dass Ambrosio, wie alle in Crocutanien, das herrschende System mit Gewalt eingeimpft bekam. Er gehört zum Typus armer Tropf: Klug genug, sich im richtigen Moment dumm zu stellen, und doch Spielball höherer Mächte - soll heißen höher gestellter Männer. Denn Crocutanien, das macht Sila überdeutlich, ist ein patriarchal organisiertes System.

Das Oberhaupt der regierenden Ideologie heißt Spiro, genannt "Marschall-Vater". Er wird jedoch nicht gestürzt oder, frei nach Freud , ermordet. Er ist schon tot, wie Ambrosios eigener Erzeuger. Und die junge Generation macht die Dinge auch nicht grundsätzlich anders als die alte. Die hitzköpfigen jungen Männer haben vielleicht dem staatstragenden Leistungssport abgeschworen. Außer ihrer ziellosen Wut kennen sie neben den Freuden des Flipperns jedoch kaum etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Der latente Heterosexismus seiner Umgebung geht auch an Ambrosio nicht spurlos vorbei: Er hält Betty für sexuell verfügbar - bis sie sich ohne Vorankündigung ins Ausland absetzt.

Woraus Sila seine Ideen ableitet, verrät der Titel des Romans, der aus Klaus Theweleits Doktorarbeit "Männerphantasien" entliehen ist. Bisweilen macht es Sila seinem Publikum recht einfach, seinen Roman als Parabel über den Zusammenhang zwischen Männlichkeitsentwürfen und faschistischen Ideologien zu entschlüsseln. Aber er macht das nicht schlecht.

Denn wichtiger als die literarische Verschlüsselung totalitärer Strukturen ist ihm die Entschlüsselung der Mechanismen, die sie aufrechterhalten. Obwohl der nahezu apathische Ambrosio als Held gar nichts taugt und als penetrant passiver Erzähler kaum mitfiebern lässt, bietet er etwas anderes, vielleicht Wichtigeres: Einblicke in ein verstörendes System, für das er keine Sympathie hegt und das ihn doch fest im Griff hat.

Zwischen crocutanischem Slang, unsinniger Bürokratie und dem rauen Umgang der Figuren miteinander entwirft Sila eine in sich geschlossene Welt, in der es sich leicht zurechtfinden lässt. Tatsächlich handelt es sich bei "Die Fahne der Wünsche" eben nicht - oder zumindest nicht nur - um eine dezidiert historische Aufarbeitung von Zuständen, die in politischer Hinsicht zuerst an Jugoslawien denken lassen. Nachdem Tijan Sila, der 1981 in Sarajevo geboren wurde, sein Romandebüt "Tierchen Unlimited" im bosnischen Bürgerkrieg beginnen ließ, liegt die Vermutung nahe, dass Crocutanien den Kommunismus unter Marschall Tito abbilden soll. Angesichts des gegenwärtigen Incel-Terrorismus, der zunehmenden Radikalisierung autoritärer Männlichkeitsideen und rechtsextremer Identitätspolitik ist der Roman aber zugleich auch als dringende Warnung vor dem (Wieder-)Kommenden konzipiert.

"Die Fahne der Wünsche" muss als zeitgenössischer Kommentar gelesen werden, seine Aktualität macht aus den ziemlich eindeutigen Schilderungen erst einen doppelbödigen Roman. Wer sich vor dem fiktiven Crocutanien ekelt, wird in der Welt reale und noch dringendere Probleme derselben Art finden, die sich nicht nach ein paar kurzweiligen Stunden im Regal verstauen lassen.

Tijan Sila: Die Fahne der Wünsche. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 308 S., 22 Euro.

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