Süddeutsche Zeitung

"Hufeisen-Theorie":Das Mantra von der Mitte

  • In der Extremismus-Theorie wurde das Hufeisenbild im 20. Jahrhundert zu einem Schlagwort der "Mitte".
  • Derzeit ist es schwer jemanden im Parteienspektrum zu finden, der sich nicht irgendwie zur "Mitte bekennt". Auch die AfD tut das immer wieder ganz entschieden.
  • Das Erfurter Desaster hat nun diese Bilderwelt zum Implodieren gebracht.

Von Gustav Seibt

Das Hufeisen ist in der politischen Metaphorik eines der Sprachbilder, die das Denken mit einem Schein von Anschaulichkeit festlegen und in die Irre führen können. Die annähernd ellipsenförmige Krümmung eines Hufeisens mit seiner offenen Schmalseite suggeriert dabei eine Nähe der politischen Extreme von links und rechts, die beide maximal und gleichförmig von der geschlossenen Schmalseite entfernt seien. Dort soll die politische "Mitte" liegen.

Dieses Bild setzt die kontinentaleuropäische Parlamentsgeografie voraus, wie sie sich seit der Nationalversammlung in der Französischen Revolution ausgebildet hat. Im Gegensatz zur rechteckigen Schuhschachtelform mit dem direkten Gegenüber von Regierungs- und Oppositionsparteien im britischen Parlament tagen europäische (und amerikanische) Parlamente seit 1789 in halbrunden oder kreisförmigen Arenen. Von Rednerpult und Präsidium aus gesehen ergibt sich daraus das Links-Rechts-Schema, das seither mit den unterschiedlichsten Inhalten zwischen Fortschritt oder Bewegung und Bewahrung oder Konservatismus belegt wurde. Bevor es Parteien der Mitte gab, war diese nur eine geometrische Bestimmung. Das Hufeisen setzt eine schon artikulierte Parteienformation voraus. Die Kreisform suggeriert dabei eine Welt von Übergängen, die das schroffe britische System nicht kennt.

Das präzise Bild vom Hufeisen wurde allerdings wohl erst in der Weimarer Republik geprägt. Dort haben es der französische Autor Jean-Pierre Faye in seiner Studie zu den "totalitären Sprachen" ("Langages totalitaires") von 1972 und der deutsche Politologe Uwe Backes in seiner Dissertation über den "Politischen Extremismus im Verfassungsstaat" (1989) gefunden. Backes konnte einen interessanten Beleg aus dem Jahr 1932 beibringen, im Umkreis der "Schwarzen Front" des NSDAP-Linksabweichlers Otto Straßer, wo man das "bürgerliche", aus der Französischen Revolution stammende Links-Rechts-Schema im Sinn einer Querfront überwinden wollte. "Stellt man sich die deutschen Parteien und Strömungen in Gestalt eines Hufeisens vor, an dessen Biegung das Zentrum und an dessen Endpunkten jeweils die KPD und die NSDAP lagern, so liegt der Raum der ,Schwarzen Front' zwischen den beiden Polen des Kommunismus und des Nationalsozialismus. Die Gegensätze von ,Links' und ,Rechts' heben sich auf, indem sie eine Art Synthese eingehen unter einmütiger Ausscheidung des ,Bürgerlichen'. Die Lage zwischen beiden Polen gibt den Spannungscharakter der Schwarzen Front am besten wieder."

So fassten es die Autoren Adolf Ehrt und Julius Schweickert in einer Schrift mit dem Titel "Entfesselung der Unterwelt. Ein Querschnitt durch die Bolschewisierung Deutschlands" zusammen. Von dort gelangte das Bild in Armin Mohlers Darstellung der "Konservativen Revolution", der bis heute maßgeblichen Gründungsschrift einer nachnationalsozialistischen deutschen Rechten.

In der Extremismus-Theorie wurde das Hufeisen zum Schlagwort

Das "Hufeisen" war auf der Rechten also zunächst positiv besetzt und gegen den politischen Liberalismus mit seinem pluralen Parteienspektrum gemünzt: "Synthese" statt Parteienstreit und Links-rechts-Konkurrenz. Erst in der Extremismus-Theorie der späten Siebziger- und Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts wurde das Hufeisenbild zu einem Schlagwort einer Mitte, die sich über die Äquidistanz, den gleichen Abstand von den Extremen definieren wollte.

Die Rede vom "Extremismus" wiederum entstand im Umkreis des bundesdeutschen Verfassungsschutzes, der damit politische Strömungen zusammenfasste, die gegen die pluralistische Grundordnung mit Rechtsstaat und Gewaltenteilung gerichtet waren - "Extremismus" ersetzte dabei jenen "Radikalismus", der unter anderem im berüchtigten "Radikalenerlass" bekämpft werden sollte: keine Radikalen oder Extremisten im Staatsdienst! "Radikal" durfte man wohl denken und meinen, das erlaubt die liberale Verfassung; die Grenze liegt beim extremistischen Agitieren und Handeln, das sich gegen diese Verfassung richtet. Der Oberbegriff des Extremismus fasste linke und rechte Varianten unter dem Kriterium der Verfassungsfeindlichkeit zusammen - in den Erscheinungen jener Zeit: "Rote Armee Fraktion" und "Wehrsportgruppe Hoffmann".

Auch dieser Extremismusbegriff hat einen ideengeschichtlichen Hintergrund, in der Theorie vom Totalitarismus, die spätestens seit dem Beginn des Kalten Kriegs rechte und linke Versionen von Diktaturen mit totalem, auch terroristischem Durchgriff auf die Gesellschaften typologisch vergleicht und systematisiert. Diese Vergleiche arbeiten nicht Unterschiede heraus, sondern Ähnlichkeiten und Analogien. Der Beobachterstandpunkt ist dabei jener "Cold War Liberalism", der die "Freie Welt" gleichermaßen von Faschismus oder Nationalsozialismus abgrenzt wie vom Sowjetkommunismus.

Die Rede von der "Mitte" ist nicht so unschuldig - und wird jetzt zu einer konservativen Scheuklappe

Es geht also um Selbstbeschreibungen in einem System konkurrierender Begriffe und Sprachbilder. Um dieses Mobile zu komplettieren, muss auch der "Extremismus der Mitte" genannt werden, ein Begriff, der ebenfalls schon in der späten Weimarer Republik aufkam. Damit wurden jene bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten bezeichnet, die sich, vor die Wahl zwischen links und rechts gestellt, für den Rechtsextremismus - also Faschismus und Nationalsozialismus - und gegen Kommunismus und Weltrevolution, also den "Bolschewismus", entschieden. Eine gemäßigte Mitte, die sich die Sache des liberalen Verfassungsstaats zu eigen machte, hatte da einen schweren Stand. Das Ende der Weimarer Republik lässt sich auch als Folge einer Panikreaktion einer solchen Mitte beschreiben.

Das Mantra von der "Mitte" ist also weniger unschuldig, als heute immer getan wird. Ohnehin ist es derzeit schwer, jemanden zu finden, der sich nicht irgendwie zur Mitte bekennt; das tut ganz entschieden auch immer wieder die AfD. Eine solche Mitte mit ihren Implikationen von gesundem Menschenverstand und Konsens kann leicht zum Statthalter einer antipluralistischen Vorstellung von "Volk" werden, in der abweichende Meinungen als illegitim ausgegrenzt werden - das gilt selbstverständlich in alle Richtungen. Die Mitte zeigt dabei eine starke Ähnlichkeit mit dem "Bürgerlichen", das auch dazu dienen soll, vor allem die Unterschiede von konservativ und rechtsradikal verschwimmen zu lassen. Ein verbaler Joker also. Seine Geschichte hat Herfried Münkler in einem äußerst lesenswerten Buch dargestellt ("Maß und Mitte. Der Kampf um die richtige Ordnung", 2010).

Das Erfurter Desaster hat diese Bilderwelt zum Implodieren gebracht

Derzeit drohen Hufeisenbild und Mitte-Begrifflichkeit zu veritablen Scheuklappen zu werden, die eine präzise Beschreibung politischer Optionen verhindern. Der FDP-Mann in Thüringen, der sich von der AfD mitwählen ließ, verkündete danach, er wolle ohne die Extreme regieren und meinte damit neben der AfD die Linkspartei. Damit wiederholte Thomas Kemmerich die Devise der Bundes-CDU, die zur monatelangen Blockade in Thüringen das ihre beigetragen hatte. Denn beide "Extreme" verfügen im Thüringer Landtag zusammen über 51 von 90 Sitzen.

Das Erfurter Desaster und die Führungskrise der CDU zeigen nun die Implosion dieser Bildwelt. Im Übrigen haben sich die deutschen Vertreter der Extremismus-Theorie, die Politologen Uwe Backes und Eckhard Jesse, immer wieder gegen die mechanische Gleichsetzung der Antipoden gewehrt. Uwe Backes verweist darauf, dass diese Bildwelten nur analytischen Wert haben. Sie können eine konkrete Beschreibung nicht ersetzen oder determinieren.

Auch war von Anfang an klar, dass der Mitte nicht automatisch eine höhere Dignität zukommt. In einem 1820, vor genau 200 Jahren, entstandenen Spruch über die "National-Versammlung" (er meinte Frankreich nach 1789) dichtete Goethe: "Auf der recht- und linken Seite, / Auf dem Berg und in der Mitten / Sitzen, stehen sie zum Streite, / All einander ungelitten." Der "Berg", die "Montagne", wo die linksradikalen Jakobiner saßen, galt ihm also nicht schlimmer als die Mitte. Die Frage seither und heute lautet: Wo sitzen die Kräfte, die den zivilisierten Streit überhaupt unmöglich machen wollen?

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SZ vom 12.02.2020/tmh
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