"Greta" im Kino:Warte, bis es dunkel wird

Filmstills "Greta" (Kinostart am 16.5.19); © Capelight

Greta (Isabelle Huppert, oben) sagt, sie sei wie Kaugummi: "Ich bleibe kleben.“ Ihr neuestes Opfer ist Frances (Chloë Grace Moretz).

  • Im neuen Film von Neil Jordan spielt Isabelle Huppert die Witwe Greta, die sich in die Jazzmusik geflüchtet hat.
  • Die jüngere Frances, deren Mutter gestorben ist, glaubt in Greta eine Seelenverwandte gefunden zu haben.
  • Was zunächst wie eine Art Romanze wirkt, entwickelt sich zum Psycho-Thriller. Greta entpuppt sich als Monster - und als Paraderolle für Isabelle Huppert.

Von Philipp Stadelmaier

Die junge Frau schlendert den Bahnsteig der New Yorker U-Bahn entlang, betritt einen Zug. Im Waggon findet sie eine Handtasche, die offensichtlich jemand liegen gelassen hat. Sie schaut sich nach einem möglichen Besitzer um, niemand ist zu sehen. Das Fundbüro hat auch schon geschlossen. Dafür findet sie in der Handtasche eine Adresse, und beschließt, die Tasche zurückzubringen.

Frances (Chloë Grace Moretz) ist jung und schön, aber nicht sehr glücklich. Sie hat zwar einen Job als Kellnerin in einem Nobelrestaurant und auch ein Dach über dem Kopf, das ebenfalls relativ nobel ist. Der Vater ihrer besten Freundin hat dieser zum Collegeabschluss ein Loft in Manhattan gekauft, in dem sie zusammenwohnen. Aber das ändert nichts an Frances' Einsamkeit. Vor einiger Zeit hat sie zudem ihre Mutter verloren. Hat sie Pläne im Leben, große Projekte, ist sie in New York, um was zu erreichen? Nicht wirklich. Ihre finanziell sorgenfrei lebende Mitbewohnerin kümmert sich um Yoga, neue Schuhe und das Nachtleben. Frances sucht nach Seelenverwandten.

Die melancholische Jazzmusik der Anfangsszenen des neuen Kinofilms von Regisseur Neil Jordan, der durch den ebenfalls recht melancholischen Klassiker "Interview mit einem Vampir" bekannt wurde, lässt erst mal keinen Zweifel daran, dass wir es hier mit einer reichlich romantischen Angelegenheit zu tun haben. Romantisch wirkt auch das verwunschene Hinterhaus, wo Frances schließlich klingelt - die Handtaschenbesitzerin, gespielt von Isabelle Huppert, bittet sie auf eine Tasse Tee hinein. Greta ist ebenso einsam wie Frances. Ihr Mann ist gestorben, die Tochter lebt weit weg in Paris. Die gebürtige Französin hat sich in die Musik geflüchtet. Auf dem Piano an der Wand spielt sie Frances etwas vor, der melancholische Jazz vom Anfang weicht nun dem noch viel melancholischeren "Isoldens Liebestod" von Franz Liszt. Die beiden Frauen freunden sich an, so sehr, dass Frances' Mitbewohnerin stänkert, sie hätte sich wohl eine "Ersatzmutter" zugelegt. Der Verdacht ist nicht unbegründet. Frances und Greta gehen in den Park und in die Kirche, um ihrer Toten zu gedenken. Dann stehen sie, wie Mutter und Tochter, mit einem Glas Rotwein in der Küche von Gretas Wohnung, und hören alte französische Schlager, während auf dem Herd Fischsuppe und Risotto köcheln.

Die irre Greta wird in eine Zwangsjacke gesteckt, aber der Albtraum ist noch nicht vorbei

Nehmen wir an, man wüsste, bevor man ins Kino gegangen ist, nichts von diesem Film. Nehmen wir an, ein Freund hätte ihn empfohlen, und man wäre diesem Tipp gefolgt, ohne sich weiter zu informieren. Alles Marketing, alle Vorabinformationen wären an einem vorübergegangen. Man würde sich nun verdammt wundern. Was soll das werden, fragt man sich? Eine Romanze zwischen (Ersatz-)Mutter und (Ersatz-)Tochter?

Da immerhin Isabelle Huppert mitspielt, die Großmeisterin abgründiger Figuren, ist entweder die Hauptdarstellerin im falschen Film gelandet - oder der Zuschauer auf der falschen Fährte. Währenddessen schlurft auf der Leinwand Frances zu einem Schrank, um Kerzen für den Abendessenstisch zu holen. Sie öffnet die Tür, die Kamera fährt über ihre Schulter langsam ins Dunkel des Schrankes. Und dann starrt Frances auf eine ganze Sammlung von Handtaschen, die exakt so aussehen wie jene, die sie in der U-Bahn gefunden hat.

Es gibt für einen Kinozuschauer wenig Schöneres, als auf raffinierte Art und Weise reingelegt zu werden. Und es gibt wenig, was so viel Angst macht wie Dunkelheit. Da fällt uns auf, wie dunkel es in Gretas Wohnung ist. Beim Abendessen kriegt Frances keinen Bissen runter und macht sich schnell aus dem Staub.

Die Romanze ist also in Wahrheit ein Psychothriller, der gerade erst begonnen hat. Um ihn durchzustehen, braucht es starke Nerven. Nichts an Greta ist, wie es scheint. Die Handtaschen benutzt sie als Köder, die sie in der Stadt auslegt, um Menschen zu sich zu locken. Vorzugsweise junge Frauen. "Jeder braucht einen Freund", erklärt sie, und diese Maxime interpretiert sie auf ihre Weise. Nach ihrer Entdeckung will Frances nichts mehr mit ihr zu tun haben, aber Greta ist, wie sie sagt, wie Kaugummi: "Ich bleibe kleben."

Greta entpuppt sich als Stalkerin, als Monster und als Paraderolle für Isabelle Huppert. Sie terrorisiert Frances mit Nachrichten und Anrufen, verfolgt ihre Mitbewohnerin auf der Straße und steht stundenlang regungslos vor dem Restaurant, in dem Frances arbeitet. Dann sitzt sie plötzlich an einem der Tische und verlangt die Karte. "Ma chérie", "mein Liebling", so spricht sie Frances vor den Gästen an, bis aus ihrem Mund irgendwann kein Englisch oder Französisch, sondern nur noch lautes und zorniges Ungarisch kommt, während sie den Tisch umstößt und auf Frances losgeht. Am Ende des Abends steckt sie in einer Zwangsjacke. Ihr Blick, wenn sie in den Krankenwagen geschoben wird, ist starr, bizarr, unvergesslich. Frances ist gerettet. Aber nur vorerst.

Es ist das Reich der Träume und Albträume, das Jordan erkundet. Momente, in denen nicht klar ist, ob man noch bei Bewusstsein ist oder halluziniert, weil man betäubt und entführt wurde. Der Ursprung von "Greta" ist ein Kindheitstrauma, das Ausgeliefertsein an eine Mutter, die ihre Kinder zur Strafe in eine kleine dunkle Kiste sperrt. "Du brauchst eine Mutter", dieser von Greta an Frances gerichtete Satz ist vielleicht der größte Albtraum in diesem Thriller, der umso schockierender wird, weil er als harmlose Romanze begann.

Greta, USA / Irland 2018. Regie: Neil Jordan. Buch: Jordan, Ray Wright. Mit Isabelle Huppert, Chloë Grace Moretz. Capelight, 98 Min.

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