Thriller "Insomnia":Alaska kann sehr hell sein

Auf der Flucht vor dem unerbittlichen Licht der Aufklärung - Al Pacino in Christopher Nolans Thriller "Insomnia"

TOBIAS KNIEBE

Zuletzt entsteht eine neue Realität, die Realität der Schlaflosigkeit. Die Bilder passen nicht mehr zusammen, der Film springt. Details sind plötzlich riesig und klar, Tropfen auf der Windschutzscheibe, der Rhythmus der Scheibenwischer. Erinnerungen blitzen auf, Botschaften aus dem Unbewussten, sickerndes Blut auf weißem Stoff. Im nächsten Moment steht das Auto, verkehrt herum, quer auf der Landstraße: Will Dormer ist am Steuer eingeschlafen.

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(Foto: SZ v. 10.10.2002)

Er kann nicht mehr reden, die Worte nicht mehr festhalten, er kann nicht mehr zuhören, der Körper holt sich gewaltsam seine Ruhe, alle paar Sekunden ein Wimpernschlag - aber der Killer draußen, der ist hellwach .. . Sechs Tage und Nächte ohne Schlaf, das hält niemand aus, nicht in diesem Licht, in der hellgrauen Mitternachtssonne von Alaska.

Zuletzt ist ein Zustand der Trance erreicht - in der Regie von "Insomnia", in den Bildern, den Soundeffekten, im Gesicht und in den Bewegungen von Al Pacino. Er ist Will Dormer, der Veteran, Police Detective aus Los Angeles. Auf Sondereinsatz in Nightmute, Alaska, sehr weit im Norden und noch weiter im Westen. Sein Gesicht wirkt schon müde, als er ankommt, im Kleinflugzeug über zerklüfteten Eismassen. Die jungen Kollegen, die seine Fälle auf der Polizeischule studieren, nennen ihn eine Legende - aber was das wirklich bedeutet, weiß nur er: diese Müdigkeit, wenn man schon alles gesehen hat; diese Kraft, die es kostet, sich selbst noch immer anzutreiben, wenn die Fälle, die Grausamkeiten, die Täter immer ähnlicher werden; die Energie der Feinde in den eigenen Reihen, die ein Denkmal stürzen und Fehler finden wollen, selbst uralte Fehler, die noch immer alles zerstören können; und die Gewissheit, besser zu sein als die anderen, noch immer, selbst im Halbschlaf. Will Dormer ahnt, dass er noch einmal kämpfen muss - aber er weiß nicht mehr, ob er die Kraft dazu hat.

Und dann macht er einen neuen, tödlichen Fehler. Einen Fehler, der passieren kann - aber Will Dormer beschließt, diesen Fehler zu vertuschen. Der Mord an einem jungen Mädchen, den er aufklären soll, zusammen mit den lokalen Kollegen, wird für ihn zum doppelten Spiel: Er muss gleichzeitig auch die eigenen Spuren verwischen. Es gibt nur einen, der alles weiß - und weil er es weiß, ist auch klar, dass er der Killer sein muss. Die anderen bemerken das nicht, sie sehen nur einen Mann, der das Opfer gekannt hat, einen Autor von Kriminalromanen aus der Nachbarstadt, ein wenig seltsam vielleicht, gehemmt irgendwie und überfreundlich, aber keinesfalls ist er ein Hauptverdächtiger. Robin Williams spielt diesen Mann, kaum anders, als er seine sentimentalen Helden angelegt hat, von "Club der toten Dichter" bis "Good Will Hunting". Das Neurotische schon in diesen Figuren, ihre Verletzlichkeit, ihr Geltungsdrang - er braucht nur ein paar Nuancen zu verändern, schon hat er einen echten Psychopathen. Ein würdiger Gegner ist er auf jeden Fall, Detective Dormer unterschätzt ihn immer wieder, bis er in Gefahr ist, das Spiel endgültig zu verlieren.

Nur der Schlaf, der kommt nicht. Nicht in der zweiten Nacht, nicht in der dritten, nicht in der vierten. Bernsteingelb scheint das Mitternachtslicht durch die Jalousie des Hotels. Giftgrün blinken die Ziffern des Radioweckers. Kein Klebeband kann die Ritzen abdichten, durch die das Licht seinen Weg findet. Ist es das Licht der Aufklärung, vor dem auch Will Dormer auf der Flucht ist? Jeden Morgen wirken Pacinos Augen noch größer, noch tiefergelegter in ihren Höhlen, noch aschgrauer und eingefallener seine Wangen.

"Insomnia" ist eine absolut sinnliche Erfahrung. Ein Genrefilm, in dem ein magischer Ort, ein mitleidloses Licht, ein vertracktes Dilemma wunderbar zusammenwirken. Großartig inszeniert von Christopher Nolan, der sich bereits in "Memento" an den Grenzen der Wahrnehmung bewegte, und der jetzt, in seinem dritten Film, eine Sicherheit erreicht hat, in der er mit Bildern nicht mehr protzen muss. Die Geschichte stammt ursprünglich aus Norwegen, der Regisseur Erik Skjoldbjaerg hat schon einmal einen eindrucksvollen Thriller daraus gemacht - aber das zeigt nur einmal mehr, wie Hollywood es doch immer wieder schafft, die Weichen richtig zu stellen: Ein genialer Stoff, der von überall herkommen kann; ein Regisseur, der sich nach zwei Independent-Experimenten ans große Starkino heranwagt; und Stars, die bereit sind, sich immer wieder neu herauszufordern.

INSOMNIA, USA 2002 - Regie: Christopher Nolan. Buch: Hillary Seitz, nach dem Film "Insomnia" von Erik Skjoldbjaerg. Kamera: Wally Pfister. Schnitt: Dody Dorn. Musik: David Julyan. Produktion: George Clooney, Steven Soderbergh. Mit: Al Pacino, Robin Williams, Hilary Swank, Maura Tierney, Martin Donovan. Warner, 118 Minuten.

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