Thriller:Durchnumerierte Gefühle

God's Kitchen, ein Roman über künstliche Intelligenz und die Vermessung des Menschen, erzählt spannend, wie ein Computer menschliche Gefühle mit Hilfe einer jungen Frau lernen soll.

Von Christine Knödler

Die schöne neue Technikwelt gehört längst nicht mehr in den Bereich der Science Fiction. Die Kehrseite sind Schreckensszenarien, in denen künstliche Intelligenzen sich der Kontrolle des Menschen entziehen. So auch im dritten Roman der Münchner Autorin Margit Ruile. "God's Kitchen" ist eine Art moderne Alchimisten-Küche. Im Labor am Institut für neuronale Informatik wird an einem Therapie-Roboter geforscht. Der Name: Chi. Die Gestalt: ein Mädchen. Das Ziel: eine künstliche Intelligenz mit menschlichen Fähigkeiten entwickeln - ein Riesengeschäft. Damit das aufgeht, füttert Céline, Studentin der Psychologie im ersten Semester und selbst mit der Gabe der Hellsichtigkeit geschlagen, Chi mit ihren Gefühlen und Erfahrungen, die eingespeist und durchnummeriert werden, als sei nach der Vermessung der Welt nun auch der Mensch vermessbar, mithin berechenbar im doppelten Sinn des Wortes. Doch das Projekt verselbständigt sich: Chi wird zum immer perfekteren Super-Roboter, der zuhören, mitfühlen, raten, trösten kann. Fast ein Mensch. Fast eine echte Freundin im sonst so einsamen Céline-Kosmos. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis Chi Wirklichkeit beeinflussen, Zukunft machen kann.

"Frankenstein" oder der "Sandmann" von E. T. A. Hoffmann im Verbund mit Goethes "Zauberlehrling" kommen in den Sinn als Vorbilder für diese Annäherung von Mensch und Maschine und die daraus resultierende Dynamik. In "God's Kitchen" heißen die Figuren Pandora und Kairos. Pandora, hochbegabte Jungwissenschaftlerin, verdankt Céline den Job. In Kairos wird sie sich verlieben. Daraus entwickelt sich ein Thriller mit ethischem Sprengstoff und typisch jugendliterarischen Themen nach Zugehörigkeit und Zukunft, indem er sie in den Kontext gesellschaftlichen Stoffs stellt. Denn die Fragen: "Wer bin ich, wer will ich sein, in welcher Welt möchte ich leben?", erfahren eine enorme Zuspitzung und Dringlichkeit, die sich steigert in: Worauf steuern wir zu und wer sitzt am Steuer? Ist der Mensch auf dem besten Wege, sich selbst zu entsorgen? Und: Was, überhaupt, macht den Menschen zum Menschen? "Du und ich, wir sind nur Ansammlungen von Daten", sagt Pandora einmal zu Céline. Doch von Beginn ihres Romans an setzt Margit Ruile gegen oder zumindest neben Pandoras Menschenbild, ihren Erkenntnisdrang und Fortschrittsglauben, Célines Irrationalität und Hellsichtigkeit. Die ist nicht beweisbar, existiert aber doch. Sie macht Céline das Leben schwer. Sie zeigt eine andere Weltsicht. Der gemeinsame Nenner ist die Zukunft.

In dieser Ambivalenz, in diesem Karussell aus Erfahrung, (Selbst-)Erkenntnis, (Selbst-)Optimierung und der Machbarkeit von Wirklichkeit - kommt das Unheimliche der modernen Gesellschaft zu Wort. Und einmal mehr bräuchte es so etwas wie einen Hexenmeister, um die gerufenen Geister zur Raison zu bringen. Also: zur Vernunft. Wie das ausgeht, ist differenziert und spannend erzählt. Es reizt zur Auseinandersetzung. Und es beschwört eine grundsätzliche Sicherheit, die zugleich Herausforderung und Forderung ist: Der Mensch kann sich entscheiden. Das machen die Figuren. Das macht die Autorin. Sie positioniert, ohne zu bewerten. Sie beschreibt, ohne vorzuschreiben. Und das ist vielleicht das eigentliche Kunststück dieses Romans. Der eröffnet Spiel- und Denkräume von hoher Brisanz. Betreten erbeten! (ab 14 Jahre

Margit Ruile: God's Kitchen. Loewe Verlag, Bindlach 2018. 318 Seiten, 14,95 Euro.

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