Süddeutsche Zeitung

Thomas Pynchon zum 80.:Auf den schrägen Pfaden der Plausibilität

Wer Bücher liest, um sich einzufühlen, geht bei Thomas Pynchon leer aus. Der amerikanische Autor liebt es, sein Publikum herauszufordern. Auch, was seine Identität betrifft. Nun wird er 80 Jahre alt.

Von Burkhard Müller

Der Schriftsteller Thomas Pynchon liebt die obskuren Wissenschaften und Künste. Kartenlegerei, Alchemie, Spionage, Parapsychologie, Verschwörungstheorien aller Art, das ist nur ein schmaler Ausschnitt aus dem bunten Spektrum der Disziplinen, die er in den Dienst seiner Romane nimmt. Was da eigentlich passiert, das lässt sich auch bei größtem nacherzählenden Fleiß nicht annähernd wiedergeben. Doch immer hat hier das Unmögliche seinen Auftritt: als ob es vielleicht doch möglich wäre, wenngleich um den Preis des Skurrilen. Kann es sein, dass Kugelblitze höflich plaudern? Dass eine bestimmte männliche Person über die Fähigkeit verfügt, kraft Erektion den nächsten Einschlagsort einer Nazi-Rakete in London vorherzusagen? Der britische Geheimdienst glaubt ja eigentlich nicht daran; aber diesbezügliche Evidenz häuft sich in einem Grade, dass er nicht umhinkann, den Fall ernsthaft zu untersuchen.

Solche schrägen Pfade der Plausibilität ergötzen Pynchon. Wenn H. G. Wells sich eine Zeitmaschine ausdenkt, dann ist das ein sorgsam durchgeführtes philosophisches Experiment. Zeitmaschinen bei Pynchon hingegen bieten sich dar als höchst wacklige Improvisationen, so ähnlich wie die Gebrüder Wright, als sie das erste Flugzeug erfanden, von einer Art glorifiziertem Fahrrad ausgingen: voll einer heiteren Zuversicht, dass der waghalsige Apparat sich wirklich in andere Sphären erhöbe. Nicht nur eine Zeitmaschine gibt es in "Gegen den Tag", sondern eine ganze Fülle von Modellen: Es sind Chronoklipse, Asimov-Transäkulare, Tempomorphe vom Typ Q-98, "ein weit gestreutes Feld aus Mutmaßung, Aberglauben, blindem Vertrauen und schlechter Ingenieurskunst, Gestalt geworden in Aluminiumblech, Vulkanit, Heuslerscher Legierung, Bonzolin, Elektrum, Lignum Vitae, Platinoid, Magnalium und Packfong-Silber, vieles davon im Lauf der Jahre abmontiert und geklaut."

Der Autor scheint dem Leser zuzuzwinkern und ihn aufzufordern, selbst den Punkt herauszufinden, wo das empirische Detail in den Flirt mit dem Phantasma übergeht. Aluminiumblech existiert ja zweifellos. Wie aber steht es mit Heuslerscher Legierung, Platinoid und Packfong-Silber? Dass spätestens beim Bonzolin eine kecke Mystifizierung vorliegt, dürfte auch der stumpfeste merken. Und kann es denn überhaupt passieren, dass Zeitmaschinen, die ja die Zeit überwinden, der Alterung verfallen, von Technik und Mode überrollt werden? Offenbar; die Szene spielt auf einem Schrottplatz. Pynchons Zeitmaschine funktioniert so gut oder so schlecht, dass die unglückseligen Zeit-Passagiere zum Schluss mit einer Art Mistgabel in die Gegenwart zurückgeholt werden müssen, damit sie nicht irgendwo in den Tiefen der Äonen verloren gehen.

Die meisten Romanciers schreiben mehr oder weniger an der Welt entlang, wie jeder sie kennt. Für Pynchon hingegen bedeutet sie kaum mehr als das Sprungbrett in die aberwitzige Erfindung; und man merkt es seinen dickleibigen Büchern an, mit welcher Lust er sich losschnellt. Je kühner der Sprung, desto dichter wird die sozusagen realistische Schilderung. Als Medium hierzu dient ihm eine kunstvoll überstreckte Syntax, wobei er alle Möglichkeiten der englischen Grammatik, besonders die Geschmeidigkeit der Partizipien, bis an die Grenze ausreizt. Bei anderen Autoren kommt es auf die Atmosphäre an, oder die Figuren, oder die Handlung; Pynchons Werk lebt in seinen Sätzen. Man hat ihm angekreidet, dass seine überaus gewundenen Plots im Nichts verrauchen und dass sein reichliches, buntscheckiges Personal dennoch immer blass bleibe; es gibt bei ihm unter Hunderten wohl keine einzige Gestalt, die sich dem Leser unverwechselbar einprägt.

Tendenziell das Deutlichste an ihnen sind ihre spleenigen Namen; sie heißen Fleetwood Vibe und Chick Counterfly, Randolph St. Cosmo oder Chevrolette McAdoo. Pynchon genießt es, sie ganz nach seiner Willkür zu erschaffen und zu kneten, und so erlangen sie keine wirklich eigenständige Existenz. Wer Bücher liest, um sich einzufühlen, wer in ihnen emotionale Kraft spüren will, der wird bei Pynchon leer ausgehen - es sei denn, er spürt diese Leerstelle als Schmerz, wie es dem Protagonisten in "V" geschieht, der einer Person nachjagt, von welcher er nichts als diese Initiale kennt und von der er hofft, dass sie seine Mutter sei.

Pynchon stellt an seine Leser hohe Ansprüche; das dürfte deren Zahl beschränken. Wenn sein Name trotzdem ziemlich bekannt ist, so verdankt er das paradoxerweise seiner Unbekanntheit. Autoren pflegen sonst um öffentliche Aufmerksamkeit zu buhlen. Pynchon hingegen hat immer größten Wert darauf gelegt, es komme allein auf sein Werk an. Dieses schritt voran in wenigen voluminösen Romanen, zwischen deren Publikation jeweils etliche Jahre verstrichen. 1963 - da war er gerade 26 - erschien sein aufsehenerregendes Debüt "V"; 1966 "Die Versteigerung von Nr. 49", 1973 "Die Enden der Parabel", 1990 "Vineland", "1997 "Mason & Dixon", 2006 "Gegen den Tag", 2013 "Bleeding Edge": nicht mehr als sieben Romane in einem halben Jahrhundert.

Er als Mensch trat dahinter völlig zurück, sodass er gerade als Rätsel Interesse weckte; kaum dass es von ihm auch nur ein einzelnes Foto aus früher Jugend gab. Inzwischen hat er die strikte Geheimhaltung ein wenig gelockert, vielleicht weil ihm klar wurde, dass man ihm dies auch als Wichtigtuerei auslegen könnte, gewissermaßen als künstlerische Eitelkeit im Negativ. So ist er nun doch ein paarmal aufgetreten, indirekt natürlich, wie man es von ihm erwartet, am denkwürdigsten bei den "Simpsons". Für diese Fernsehserie stellte er zwar den Soundtrack seiner Stimme zur Verfügung, aber als Zeichentrick-Figur mit einer Papiertüte über dem Kopf. Er soll einen Klappentext für den Roman von Marge Simpson verfassen und entledigt sich seiner Aufgabe folgendermaßen: "Thomas Pynchon loved this book, almost as much as he loves cameras!" Seinen Humor hat sich Pynchon bis ins fortgeschrittene Alter bewahrt. An diesem Montag wird er 80.

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Quelle:
SZ vom 08.05.2017/cag
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