Süddeutsche Zeitung

Thomas Piketty: "Rassismus messen, Diskriminierung bekämpfen":Gegen die Logik des Generalverdachts

Wie der linke französische Star-Ökonom Thomas Piketty die Identitätsdebatte versachlichen will.

Von Jens-Christian Rabe

Der Streit über Identität und Herkunft war einer der zentralen des Jahres und er ist weit davon entfernt, beigelegt zu sein. Zumal die Diskussion entweder eine rechte essenzialistisch-rassistische Logik des Generalverdachts stärkt oder das rätselhaft unerschöpfliche Potenzial offenbart, Menschen gegeneinander aufzubringen, die ideologisch sonst gar nicht so viel trennt. Gut zu beobachten war das gerade wieder einmal bei der PEN-Berlin-Tagung, wo es in den Unterdisziplinen Cancel Culture und Meinungsfreiheit zum Konflikt kam.

Der 51-jährige französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, der vor knapp zehn Jahren mit seiner Studie "Das Kapital im 21. Jahrhundert" zur Entwicklung der Ungleichheit berühmt wurde, ist der Aufregung überdrüssig. Man spürt es deutlich bei der Lektüre seines kurzen neuen Essays.

Dessen Titel signalisiert ohne Umschweife, wohin er die Debatte lieber steuern würde: "Rassismus messen, Diskriminierung bekämpfen". Wenn er "Identitätshysterie" beklagt, ist sein zentraler Bezugspunkt zwar Frankreich, aber die meisten seiner Ideen sind auch für deutsche Leser und Leserinnen relevant.

Vor allem missfällt ihm nämlich, dass zwar alle von Identität sprechen, aber niemand ernsthaft von Sozial-, Wirtschafts- und Antidiskriminierungspolitik: "Ob es um den Zugang zu Bildung, Beschäftigung oder Wohnraum, zu Sicherheit, Respekt und Würde geht - die herkunftsbezogene Ungerechtigkeit ist so himmelschreiend wie noch nie zuvor."

Piketty sucht mit seinem Vorstoß letztlich so etwas wie den heiligen Gral: ein universalistisches Modell des Kampfes gegen Diskriminierung. Entscheidend dafür ist ein Wechsel der Perspektive auf das Problem. Wir sollen uns endlich von einem "kulturellen Verständnis" von Rassismus verabschieden. Die vielfältigen diskriminierenden Konstruktionen, Diskurse und Vorstellungen, die wir aus der Geschichte kennen, seien vielmehr "stets in einen spezifischen sozio-ökonomischen Kontext eingebettet", in dem unterschiedliche soziale Gruppen schlicht um Löhne, Anerkennung und Würde konkurrierten.

Zahlreiche Studien belegen, dass Jüngere sensibler auf Diskriminierungen reagieren

Und was heißt das konkret? Etwas hemdsärmelig, aber ansteckend aktionistisch schlägt Piketty vor, eine bestens ausgestattete nationale "Beobachtungsstelle für Diskriminierung" einzurichten, die das Problem mit Hilfe von Umfragen und (streng anonymisierten) Volkszählungen systematisch erforscht. Nur so, akribisch und nüchtern, lasse sich die atemraubende Scheinheiligkeit etwa der ungerechten Bildungspolitik effektiv bekämpfen und eine große Koalition schmieden.

Wer glaubt, das sei naiv, den erinnert er daran, dass zahlreiche Studien belegten, wie viel sensibler jüngere Generationen auf Diskriminierungen reagieren. Die "Erbitterten" würden ihren Platz dagegen irgendwann räumen müssen: "Machen wir uns daran, der darauf folgenden Welt den Weg zu ebnen!"

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