Theater:Weißer alter Mann in Not

Pressebilder: Das Leben des Vernon Subutex
von Virgnie Despentes, Regie: Thomas Ostermeier

Joachim Meyerhoff spielt Vernon Subutex müde und heillos von der Welt überfordert.

(Foto: Thomas Aurin)

Sozialabsturzblues: Thomas Ostermeier inszeniert an der Berliner Schaubühne "Das Leben des Vernon Subutex".

Von Peter Laudenbach

Fragt man Thomas Ostermeier, wie oft er seine vor dem ersten Lockdown geplante Inszenierung von Virginie Despentes' Wirtschaftskrisen- und Sozialabsturz-Roman "Das Leben des Vernon Subutex" verschieben musste, kommt als Antwort ein tiefer Seufzer. Jetzt endlich kann er die Aufführung an der Berliner Schaubühne (schaubuehne.de) zeigen, sie ist eines der Hoffnungssignale zum Neustart des Theaters in der abflauenden Pandemie. Die Premiere wirft, schon bevor man endlich wieder in die Schaubühne darf, ein paar Fragen auf: Wie haltbar sind die Krisen-Diagnosen aus der Zeit vor der Pandemie? Taugt die Geschichte des in die Obdachlosigkeit abgerutschten früheren Pariser Plattenhändlers Vernon Subutex noch als Skizze aus einer entsicherten Gesellschaft, die jeden aussortiert, der nicht mithalten kann oder sich wie Subutex etwas zu störrisch an Lebensentwürfe aus dem vergangenen Jahrhundert klammert? Despentes hat den ersten Teil ihrer Romantrilogie, den Ostermeier jetzt auf die Bühne bringt, vor sechs Jahren veröffentlicht. Angesichts der Pandemiefolgen, der spätestens nach der Bundestagswahl zu erwartenden Spar-Pakete und härter werdender Verteilungskämpfe könnte das Schicksal des verkrachten Lebenskünstlers heute fast schon nostalgisch wirken.

Ostermeier entgeht dieser Falle, indem er erst gar nicht versucht, Subutex' Überlebensmanöver zu einem Balzac'schen Breitwand-Gesellschaftstableau aufzublasen. Er entscheidet sich für das radikale Gegenteil: Jede Station des Drifters auf der Suche nach einem Schlafsofa, einem Job oder einer warmen Mahlzeit, jede Begegnung mit alten Kumpels, Gelegenheitsaffären und Zufallsbekanntschaften wird isoliert. Die Menschen reden in Monologen, schon weil jeder seine eigene Wahrheit hat und für die anderen nicht mehr Interesse aufbringt als nötig. Was natürlich auch wieder eine Gesellschaftsdiagnose ist.

Die Punk-Hits der 70er-, 80er- und 90er-Jahre bilden den Soundtrack zu den Subutex-Lebenslügen

Joachim Meyerhoff spielt Vernon Subutex als leicht verwahrlosten, nie richtig erwachsen gewordenen Dauerhänger. Sein Abrutschen in die Obdachlosigkeit registriert er eher verwundert und verschwommen. Als letzter innerer Halt bleibt ja immer noch eine Platte der Cramps und das endlose Plattenladen-Gerede. Es ist großartig, wie müde und heillos von dieser Welt überfordert Meyerhoff seinen Vernon Subutex spielt. Bei aller Zähigkeit und seinen gelegentlichen lichten Momenten treibt die Szene-Sumpfblüte als trauriges Überbleibsel einer längst vergangenen Jugend durch Paris. Eine grauenvoll dumpfe Coverband spielt dazu mit Mut zur Testosteron-Peinlichkeit die größten Punk-Hits der 70er-, 80er- und 90er-Jahre, als wären die Dead Kennedys oder Iggy and The Stooges Schweinerock-Bierzeltkapellen des Schreckens. Das ist der durchaus hämisch zitierte, sozusagen ranzig gewordene Soundtrack zu den Subutex-Lebenslügen und noch nicht ganz verlorenen Illusionen. Bei aller Sympathie für seinen Titelhelden ist Ostermeier ehrlich genug, es mit der Zuneigung nicht zu sehr zu übertreiben - das macht seine Inszenierung angenehm larmoyanzfrei.

Unverstelltes Mitgefühl schenkt die Inszenierung ihrem traurigen Helden erst ganz am Ende

Bei seinem Weg nach unten treibt Vernon vor der spärlich möblierten, dekorativ mit Videos des nächtlichen Paris verzierten Drehbühne (Bühne: Nina Wetzel) an strebsameren Zeitgenossen und Bekannten aus seinen besseren Tagen vorbei. Sympathieträger oder auch nur mit etwas Herzenswärme ausgestattete Menschen sind eher selten darunter, dafür viele verlorene, im Überlebenskampf gestählte Seelen wie Pamela Kant (Ruth Rosenfeld), ein arbeitsloser Pornostar. Xavier, ein hellsichtig zynischer Drehbuchschreiber mit rassistischer Schlagseite (Holger Bülow), oder die eiskalte Ex-Junkie-Blondine Sylvie (Stephanie Eidt) werden Vernon nicht retten. Auch die Geduld des vereinsamten Altrocker-Alkoholikers Patrice (Thomas Bading) oder einer spießig und bitter gewordenen früheren Punk-Musikerin (Julia Schubert) ist begrenzt. Dass diese sauber gezeichneten Porträts nicht zur Typenkomödie gefrieren, verdankt sich den tollen Schauspielern. Bastian Reiber als Börsenspekulant legt hochtourig komisch, böse und aberwitzig einen Mittelschichts-Verachtungs-Monolog hin. Eine Entdeckung ist Hêvîn Tekin als junge Frau, die sich aus dem Zynismus der Zeit in den muslimischen Glauben rettet. Aber auch hier bleibt die Regie unsentimental: Ostermeier ist kein Verkäufer wohliger Gefühle.

Unverstelltes Mitgefühl schenkt die Inszenierung ihrem traurigen Helden erst ganz am Ende, als Vernon Subutex sich nichts mehr vormachen kann und am Tiefpunkt angelangt ist: Er bettelt auf dem Boden kniend in einer Metrostation. Nicht zu den kleinsten Schrecken dieses Premierenabends gehört es, dass man, unmittelbar nach diesem traurigen Bild auf der Bühne, beim Verlassen des Theaters von einem der vielen Berliner Bettler und Obdachlosen mit der Bitte um einen Euro angesprochen wird.

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Joachim Meyerhoff

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:Wenn ich nicht brannte, war ich niemand

Joachim Meyerhoff schreibt erfolgreich Bücher und ist einer der gefragtesten Schauspieler unserer Zeit. Er verausgabte sich, ging über seine Grenzen - und erlitt mit nur 51 Jahren einen Schlaganfall. Begegnung mit einem, dessen Leben nun ein anderes ist.

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