Thomas Manns Roman "Der Erwählte":Der heilige Sünder

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Thomas Mann im Jahr 1945 in seiner Bibliothek in Santa Monica. Sechs Jahre später erschien "Der Erwählte" in Deutschland. (Foto: Anonymous/Associated Press)

Großer Spaß für die Leser, gehasst von der Kritik: Die kritische Ausgabe von Thomas Manns "Der Erwählte" ist selbst ein zeithistorischer Roman.

Von Gustav Seibt

Von seinen kleinen Romanen ist er der kürzeste, aber vielen Lesern der teuerste. Denn Thomas Manns "Der Erwählte", 1951 erschienen, zeigt alles, was dieser Schriftsteller "konnte", womöglich am kompaktesten: die Verbindung des Komischen mit dem Rührenden, die Nähe von Mythos und Psychologie, eine weitherzige Religiosität, die Selbstthematisierung des Erzählens, dazu einen fantastischen kulturgeschichtlichen Beziehungsreichtum. Die knapp dreihundert Seiten sind auf ihre leichtfüßige Art eine Enzyklopädie, die ein paar Jahrhunderte europäischer Überlieferungen aufschließt.

Das ahnt man beim Lesen, man erfährt es in einem umfassenden Kommentar. Der liegt nun auf 550 Seiten vor, in einem der gewohnt opulenten Doppelbände der Frankfurter Thomas-Mann-Ausgabe. Der riskante Stoff, der Inzest und Erlösung, Geschwisterliebe und Beischlaf mit der Mutter - Wälsungenblut und Ödipus - verknüpft, stammt aus der Zeit um 1200. Thomas Mann begegnete ihm bei den Studien zum "Doktor Faustus" in der "Legenda aurea", dem goldenen Buch mittelalterlicher Heiligengeschichten. Die mittelhochdeutsche Versfassung im "Gregorius" des Hartmann von Aue wurde dann zur unmittelbaren Vorlage für die unglaubliche Geschichte, die am Ende den sündigen Helden unter lautem Glockenschall in Rom auf den Thron des Papstes führt.

Der Kommentar kann zeigen, dass Mann den Stoff schon 1894/95 in mediävistischen Vorlesungen kennenlernte. Für die Ausarbeitung seit 1947 konstruierte er sich ein westeuropäisch-römisches Fantasie-Mittelalter, das Spätantike-Stimmungen aus der "Geschichte der Stadt Rom" von Ferdinand Gregorovius mit burgundischer Hofkultur, irischer Mönchskultur und klassischer Ritterepik verknüpfte. Dem diente eine verspielte Kunstsprache mit Versatzstücken aus Altdeutsch, Altfranzösisch und Latein. Man kann bei gutem politischem Willen darin sogar einen Spiegel der 1950 am Horizont erscheinenden westeuropäischen Vereinigung erkennen.

Thomas Mann: Der Erwählte. Roman. Herausgegeben und kommentiert von Heinrich Detering und Maren Ermisch. (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 11, 1 und 2). S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. Zusammen 857 Seiten, 139,00 Euro. (Foto: N/A)

Das Thema ist fromm, es handelt von Sünde und Gnade. Der erwählte Held ist als Kind einer Geschwisterliebe eine Frucht der Sünde; unerkannt, aber nicht völlig unbewusst wird er später zum Gemahl seiner eigenen Mutter. Er büßt die übergroße Schuld durch Regression in eine Art vormenschliche Existenz auf einer Felseninsel, wo ihn Mutter Erde mit einem dünnen Trank aus einem Bodenspalt am Leben hält, bis ihn die überaus parfümierte katholische Vision zweier römischer Senatoren (mit Rosenblättern und Lämmchenblut) auf den Stuhl Petri beruft. Das war 1951 so anstößig, dass der "Holy Sinner" im katholischen Irland verboten wurde.

Die von Heinrich Detering und Maren Ermisch beigebrachten Materialien und Werkdurchblicke - eine für Thomas Mann eigens erstellte Prosaübersetzung von Hartmanns Versepos wird erstmals gedruckt - erlauben präzisen Nachvollzug der Entstehung, der zu einer genetischen Werkinterpretation gerät. Der Stellenkommentar macht noch die leisesten Anspielungen zwischen Wolfram von Eschenbach, Richard Wagner, moderner Altgermanistik und Mythenforschung hörbar.

Sogar der gut aussehende Totschläger, dessen Foto sich Thomas Mann als Vorbild für seinen Helden aus der Zeitung schnitt, ist nun zu bewundern. Wieder zeigt sich, dass bei diesem Autor keine Einzelheit ohne konkrete Anschauung blieb. Der filigrane Text wird in seine vielen Stimmen zerlegt wie in einer Partitur, sodass man sich des extravagant zusammengestellten Orchesters aus vielen historischen Stimmen überhaupt erst bewusst wird.

Ein Kritiker warf Mann eine "perverse Lust am Exkrement" vor

Sensationell und bedrückend aber ist, was der Kommentar zur zeitgenössischen Rezeption mitteilt. Die Exzesse an Hass, die der kleine Roman vor allem bei der westdeutschen Literaturkritik hervorrief, verrät das Ressentiment moralisch blamierter Mitläufer, denen Thomas Manns Existenz als solche widerwärtig war. Denn es sind durchweg mehr oder weniger nationalsozialistisch kompromittierte Kritiker wie Hans-Egon Holthusen, Karl Korn, Friedrich Sieburg, Erhart Kästner und der unselige "Hans Schwerte" (als SS-Mann noch Hans Schneider), die dem alten Schriftsteller "Jongleur-Virtuosität", "Skandalpikanterien", "Indezenz", "Experimentiersucht", vorhalten, sein Buch als "Ausstattungsoperette" und "durchtriebenes artistisches Gaudienstück" anschwärzen und ihn in einer "Sackgasse" sehen.

Den Ton hatte schon der niederträchtige FAZ-Artikel Gerhard Nebels zu Thomas Manns 75. Geburtstag gesetzt. Hier erschien der "Zauberberg" als "Blutbrei der tuberkulösen Lunge", der "Faustus" als "gelber Matsch des syphilitischen Gehirns", und ihrem Autor wird allen Ernstes "Koprophilie", die perverse Lust am Exkrement, vorgeworfen. Der vormalige Himmler-Mitarbeiter Schneider/Schwerte erkannte bei Thomas Mann und Hitler eine "Bruderschaft des Hasses, die dennoch dasselbe zu leisten verdammt ist": der "Erwählte" als Pendant zu Weltkrieg und Massenmord.

Vielleicht noch perfider sind Reportagetexte wie der eines Kritikers namens Becht im "Rheinischen Merkur", der von einer Lesung berichtete: "Angetan mit dem stützenden Korsett der Eitelkeit, das Haltung vortäuscht, wo kein Halt ist, geschniegelt, betont gepflegt, und jenes unverbindlich-gönnerhafte amerikanische Lächeln lächelnd, das von der Nützlichkeit guter Beziehungen für sich und die anderen weiß, bestieg unlängst Thomas Mann im Casinosaal zu Basel das Katheder."

Eine fromme Historikertheorie besagt, Niederlagen eröffneten privilegierte Erkenntnischancen, während Siege dümmer machen. Die Rezeption Thomas Manns in Deutschland nach 1945 zeigt viele Beispiele des Gegenteils. Auch das gehört zur Geschichte des wundervollen kleines Buchs von Schuld und Gnade, von Sünde und Erlösung

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikel hieß es, der Roman wurde in der DDR erst 1985 veröffentlicht. Im Rahmen einer Thomas-Mann-Werkausgabe des Aufbau Verlags erschien er jedoch bereits 1956. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

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