Süddeutsche Zeitung

Thomas Köcks "Paradies" am Hamburger Thalia-Theater:Die unsichtbare Hand des Murkses

Lesezeit: 3 min

Regisseur Christopher Rüping missrät Thomas Köcks gefeierte Stück-Trilogie "Paradies" am Hamburger Thalia-Theater leider zur staubtrockenen Aufsagearbeit unter Corona-Bedingungen.

Von Till Briegleb

Gummibarone im Manaus des 19. Jahrhunderts waren nicht unsichtbar. Sie pflegten einen legendären Lebensstil der Verschwendung, hielten sich Löwen, Yachten und veranstalteten Menschenjagden. Sie bauten sich eine berühmte Oper aus italienischem Marmor und verstümmelten und ermordeten fast die gesamte indigene Bevölkerung am Rio Negro im Zentrum des Amazonaswaldes.

Doch weil sie die neue Autoindustrie ins Rollen brachten durch den mörderischen Kautschukabbau, den sie durch eine Sklavenarmee im brasilianischen Dschungel betrieben, war ihr Selbstverständnis das einer historischen Mission.

"Wir sind die unsichtbare Hand, die hier die Natur des Marktes durchsetzt", sagen sie in Thomas Köcks Stück-Trilogie "Paradies". Und damit proklamieren sie in allem Hohn, was die Zauberhand der Marktwirtschaft, die angeblich mit dem gesunden Verhältnis von Angebot und Nachfrage alles gerecht regelt in der Welt, an ihrem Ausgangspunkt schon immer konkret bedeutet hat, dort, wo die Basis des Wohlstands erzeugt wird: Es sind fürchterliche Schicksale, Gewalt, Grausamkeit, Raub, Zwang, Krieg und völlig fehlende Menschlichkeit.

Kurz vor der Premiere musste die Inszenierung auch noch blitzschnell umgebaut werden

Darum geht es in diesem Dreiteiler mit den Kapiteln "fluten / hungern / spielen", für den Thomas Köck 2018 zum Dramatiker des Jahres beim Mülheimer Stücke-Festival gewählt wurde. Um den verschwiegenen Horror der Warenproduktion, die Verschleierung der Herkunft von Reichtum, um das ganz konkrete millionenfache menschliche Leid, das Gier und Wettbewerb auf dem Globus erzeugt.

Köck erzählt das in Episoden aus Zhangzhou, wo eine moderne Zwangsarbeiterschaft Lithiuminoen-Akkus herstellt, aus dem italienischen Prato, wo dieselben traurigen Menschen Billigklamotten nähen, aber auch anhand eines Arbeiters in Osnabrück, der davon träumt, selbständig zu sein, und sich dann mit einem Gummireifenhandel ruiniert.

Im Thalia-Theater in Hamburg wollte nun Christopher Rüping, der mit seiner zehnstündigen Inszenierung "Dionysos Stadt" von den Münchner Kammerspielen 2019 durch mehrere Jurys zum Regisseur des Jahres gewählt worden war, Köcks Mammut-Stück als nächste große Kunstüberforderung inszenieren: Im ganzen Haus mit vielen Schauplätzen sollte die achtstündige Textmenge Anfang des Jahres als kapitalismuskritischer Kunstsuperlativ zeigen, dass die Wachstumsidee "Größer, Weiter, Mehr" auch im Theaterbetrieb eine gut funktionierende Maxime ist. Doch dem machte eine "chinesische" Lungenseuche einen Strich durch die Rechnung. Also wurde die Trilogie mit sehr vielen Eingriffen auf knapp zwei Stunden gekürzt und jetzt ganz konventionell im Großen Haus als Frontaltheater gezeigt.

Da kurz vor der Premiere Hans Löw krank wurde, musste die Inszenierung auch noch blitzschnell umgebaut werden, Löws Rolle durch den eingesprungenen Günter Schaupp sowie die Umverteilung des Textes geleistet werden. Aber das können kaum Gründe genug sein für diese spröde Aufsagearbeit, die Rüping Köcks Textmaterial hier verordnet hat. In den üblich schwarz-leeren Guckkasten, wie er im Thalia seit Jahren als erschöpfend armes Bühnenbild benutzt wird, wurden durch Peter Baur nur zwei gläserne Container gestellt (weil es ja um Wirtschaftskreisläufe geht). Die lässt Rüping ohne echte Bildkraft hin- und herschieben, oder sie werden an Seilen hochgezogen.

Zum Beispiel als hängende Aussicht auf Bagdad, wo Maike Knirsch, eingesperrt ins Palestine Hotel, den Stress einer westlichen Kriegsberichterstatterin vorträgt. Sich dem latenten Zynismus dieser Berufssparte erwehrend, berichtet sie von Liebesaffären unter den Korrespondenten, von der Gier nach hochdotierten Preisen und einer Party für die im Luxusbau isolierten Journalisten, ein Totentanz auf dem Leichenhügel des Irakkriegs. Als das Hotel dann zum Anschlagsziel wird, befreit es die gelangweilten Eingesperrten zu bester Laune. Endlich haben sie etwas zu knipsen und zu schreiben, sitzen sie mit aufgeklappten Laptops und Handys in den Trümmern, froh und beschäftigt. Bis auf die toten Kollegen und Hotelangestellten, die jetzt aber wenigstens zu Medienschicksalen geworden sind.

Warum dieser brillant von Köck aufgeschriebene Moment, in dem die ganze Tragik von Moral und Perversion im Krieg ums Öl sichtbar wird, dann aber mit albernen Kinderkriegsspielen und ironischen Chören in goldenen Prunkklamotten (von Lene Schwind) ins Lächerliche hinübergeführt werden muss, bleibt so unklar, wie so vieles in dieser einfallslosen Regie.

Das Ende behandelt dann Köcks falsches Paradies der Wachstumswirtschaft. Endlich!

Etwa, warum man die "übliche beatboxende rothaarige deutsche Transgender Frau mit türkischem Migrationshintergrund" (Eigenwerbung), Lia Şahin, hier integriert hat, die nur sich selbst inszeniert. Weil man das als politisch korrektes Theater heute so machen muss? Oder warum die verdichtete Geschichte der Weltmigration, die Köck mit einem chinesischen Arbeiterpaar und seinen Träumen von Italien ergreifend beschreibt, von Björn Meyer und Maike Knirsch nur abgelesen werden? Sind sie nicht eigentlich Schauspieler?

Es ist einzig die Qualität des Textes, die durch diese uninspirierte Aufführung führt. Köcks gedankenbefreiende Sprache, dieser lakonische Ernst, mit dem er die großen Zusammenhänge des globalen Unrechts an menschlichen Episoden schildert, zeigt aber auch erschreckend deutlich, dass Rüpings Regie das Potenzial dieser Texte nicht einmal im Ansatz ausschöpft. Erst am Schluss, wenn er sich endlich dazu entschließt, die Schicksale, um die es hier geht, auch als menschliches Erleben spielen zu lassen, wird die Inszenierung dicht und klärend.

Die finalen Passagen mit Günter Schaupp als Vater sowie Knirsch und Meyer als Familie, als der am Wirtschaftsglauben verzweifelte Mann den Ausweg aus dem sozialen Konkurs und Zusammenbruch seiner Träume mit Benzinkanister und Feuerzeug sucht, finden endlich den Punkt, um den es in der Trilogie über das falsche Paradies der Wachstumswirtschaft geht. Es sind echte Menschen, die als Opfer der Gier Glück und Leben lassen. Wenn man Überbau und persönliches Leid nicht mit Ironie auseinanderreißt, sondern den Zusammenhang verständlich und mitfühlbar zeigt, wird aus diesem Drama etwas Sichtbares. Dafür braucht es die unsichtbare Hand des Regisseurs.

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Quelle:
SZ vom 08.09.2020
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