Süddeutsche Zeitung

Thomas Brussig:Freibrief zur Verantwortungslosigkeit

Für Pubertäre und Menschen, die ihre merkwürdigen Metamorphosen zu verstehen versuchen: In Thomas Brussigs "Die Verwandelten" werden zwei Teenager zu Waschbären.

Von Franziska Augstein

Zwei Jugendliche, die sechzehn Jahre alte Fibi und ihr Freund Aram, vergnügen sich mit Mutproben. Eines Tages kommen sie auf die Idee, sich in einer Autowaschanlage einseifen und rundum bürsten zu lassen. Das Experiment hinterlässt sie fleckenlos, bloß haben sich die beiden dabei in Waschbären verwandelt. Fibi - typisch Mädchen! - hat ihr Sprachvermögen nicht verloren, Aram wohl. Allzu viel hat er seinen Eltern ohnedies nicht zu sagen, Fußball ist ihm wichtiger. Dieses Faible hat er mit seinem Schöpfer Thomas Brussig, Initiator der "Deutschen Fußballnationalmannschaft der Schriftsteller", gemeinsam.

Thomas Brussig hat sich mit geschmeidigem Witz und Romanen, die vornehmlich von den Ostdeutschen und der "Zone" handeln, international Beliebtheit erworben, und auch mit der Verfilmung von "Am kürzeren Ende der Sonnenallee". Sein neues Buch "Die Verwandelten" ist zwar ostdeutsch grundiert, handelt aber vor allem von der Pubertät. Als Geschenk für Kinder ist es zu empfehlen, desgleichen für Ältere, die damit liebäugeln, sich so aufzuführen wie die zwei Waschbären.

Die Elternpaare der beiden nehmen die Verwandlung ohne Weiteres hin: Der Unterschied zwischen ihren Menschenkindern und den Waschbären haut sie nicht vom Hocker. Enttäuschend für Fibis Vater, Bürgermeister in seiner Ortschaft, ist bloß, dass die Tochter als Waschbär wohl kaum Apfelkönigin werden kann. Außerdem legt der Vater Wert auf einen ordentlichen Rahmen: "Wir sind Familie Hüveland, wir sind zivilisierte Menschen. Wir werden jeden Morgen und jeden Abend gemeinsam essen." Nö, sagt Fibi: "Ich fresse", und das dann eben, wann es ihr passt.

Arams Vater ignoriert die Verwandlung des Sohnes, so wie großmütige Eltern über die Allüren Pubertierender mal liebevoll, dann wieder ignorant hinwegsehen. Dumm ist bloß, dass Aram bis zum Probespiel bei der Auswahl für die HSV-Nachwuchsmannschaft partout Waschbär bleibt: Er kann zwar auch als Tier ziemlich gut kicken. Vater und Sohn merken aber, dass der aufrechte Gang beim Fußballspielen denn doch hilfreich ist.

"Solange man sich mit mir beschäftigt, bin ich zivilisiert."

Fibis Eltern interessieren sich angelegentlich für Töchterleins neue Gestalt. Die Mutter, eine Psychologin, will das Waschbärendasein verstehen und den damit einhergehenden Empfindungen auf den Grund gehen. Fibi für ihren Teil geht dem Inhalt von Sitzpolstern auf den Grund. Sie erklärt: "Solange man sich mit mir beschäftigt, bin ich zivilisiert." Anderenfalls und um sich nicht zu langweilen, zerfetzt sie gern Polster. Des Weiteren verkündet sie, sobald sie wie ein Mensch denke, wolle sie nicht für ihre Handlungen als Waschbär Rede und Antwort stehen. Das quittiert der Vater mit einem Hmpf: Sie wolle wohl "einen Freibrief zur Verantwortungslosigkeit".

Der Vater macht sich viele Gedanken, sowohl im Hinblick auf Fibis Karriere als Apfelkönigin, wie auch die Frage betreffend, ob man ihre Verwandlung touristisch ausschlachten könne. Des Weiteren stellt er Nachforschungen an, wie es zu der Verwandlung gekommen sei und wie sie rückgängig gemacht werden könne. In der Folge treten allerlei Personen auf, die vor allem dazu da sind, das Spektakel fortzuspinnen. So wenig der Vater mit seinen Recherchen Erfolg hat, so wenig Fortune hat der Roman: Die Geschichte vertangelt sich zunehmend im Aberwitzigen, was mitunter nicht mehr witzig ist, sondern bemüht wirkt. Irgendwie, so der Eindruck, soll der Roman nun zu einem runden Ende kommen. Aber nicht jeden hängen gebliebenen Faden hätte Brussig aufgreifen müssen. Die Ausgangsidee ist so komisch und ihre anfängliche Entwicklung so gut gelungen: Er hätte einfach irgendwann alle ins Bett beziehungsweise zum Containern auf Waschbärenart in die nächste Mülltonne schicken können.

Das ist aber letztlich nicht wichtig. Die Lektüre macht auf den ersten zweihundert Seiten nicht zuletzt deshalb Spaß, weil Brussig das Umgangsdeutsche virtuos beherrscht. Auch schöne oder abstruse Wörter fallen ihm ein, zum Beispiel "Tussengeschnatter", "liebesfilmpeinlich", "Weltgesellschaftsfrontdienstler", "Büromöbelnutzungsdauerrichtlinien". Und hier eine Information für alle, die es noch nicht gewusst haben: Das Wort "Sensation", englisch ausgesprochen, schreibt man "ßenßejschen".

Thomas Brussig: Die Verwandelten. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 328 Seiten, 20 Euro.

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SZ vom 10.03.2020
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