Süddeutsche Zeitung

Thomas Arzts Roman "Die Gegenstimme":Ereignisse eines schönen Tages

Jeder hat seine Gründe fürs Mitmachen: Thomas Arzt erzählt von einem österreichischen Dorf, das fast geschlossen für den Anschluss an Deutschland gestimmt hat.

Von Joseph Hanimann

Am Abend des 10. April 1938 wird viel passiert sein in dem oberösterreichischen Dorf unter dem Hochkogel. Es ist Wahlsonntag. Großbeflaggung überall, Messe vormittags in der Kirche, dann Festessen, Blasmusik und Männerchor, Bier abends beim Platzer in der Gaststube. Einstimmig werden die Dorfbürger dem Anschluss ihres Landes an Hitlers Deutschland zugestimmt haben. Abgesehen von einer Gegenstimme.

Mit der klassischen Regel der Einheit von Ort, Zeit und Handlung treibt der bisher als Bühnenautor bekannte Thomas Arzt in seinem Erstlingsroman das Geschehen durchs Gestrüpp aus saftiger Situationsschilderung, direkter Rede im Dialektklang, inneren Monologen und entrücktem Erzählergemurmel. Ein Heimatroman? Wenn, dann einer, der nicht wohlige Vertrautheit verbreitet, sondern das historisch Bekannte und Vertraute grausig nachhallen lässt.

"Geht der Bleimfeldner Karl, geht er die Ortsstraße hinan." Wie Ahnenbilder am Nagel auf der Stubenwand hängen die Anfangssätze der 29 jeweils an einer Romanfigur festgemachten Kapitel am Verb, das in den Folgesätzen dann oft fehlt, weil man unter den Dorfbewohnern sich eh versteht und also die Sätze nicht fertig zu machen braucht. Karl ist die Hauptfigur, ein Studierter, Sohn des Ortsschusters, der für diesen Sonntag aus Innsbruck nach Hause zurückgekehrt ist. Doch "ganz bist ja nie weg, auch wennst nimmer da", denkt er sich beim Hinangehen durchs Dorf.

Mit Stöcken jagt das junge Volk die "Gesinnungssau"

Am Nachmittag wird er dann weniger besinnlich oben auf dem Berg herumlaufen und verstört einen Unterschlupf suchen vor einer ihm auf der Spur folgenden Meute aus Deppen und Jungnazis. Zuvor hat er im Wahllokal, wo die anderen ihr "Ja" stolz in aller Öffentlichkeit ankreuzten, beim Ankreuzen des "Nein" hinter dem Vorhang aus Panik vor den Folgen seines Muts sich nicht verhalten können, sodass es über den Gemeindehausboden rann. "Der Trottl hat auf Hitler gebrunzt", hat einer gerufen. So ist das junge Volk nun mit Stöcken und Pistolen hinter der "Gesinnungssau" her.

Thomas Arzt zeigt in diesem Buch, wie geschickt er auch im Roman Situationen, Szenen, Stimmungen entwickeln kann. Wirken die meisten Dörfler eher als laue Mitläufer, die sich vom Wohl des Großdeutschen für ihr persönliches Leben mühselig selbst zu überzeugen suchen, ragen einige Profile scharf und kantig heraus. Die Kern Cilli zum Beispiel, Tochter des Neubürgermeisters, der die Zeichen der Zeit schnell erkannt und den Altbürgermeister - "Tu ned lang um und setz deinen Haxn drunter" - abserviert hat.

Auch ihr eigener Vater kommt dieser Cilli, die vom politischen Scharfmacher Oskar aus dem Priesterseminar schwärmt und unter der Bluse ein Hitlerfoto trägt, mit seiner Schweinebratengemütlichkeit der neuen Zeit unwürdig vor. Denn sie selber träumt vom unbedingten Willen auf den künftigen Schlachtfeldern. Wohingegen der Schuster wiederum, Karls Vater, sich sorgt, wo die vielen neuen Stiefel hinmarschieren sollen.

Oder da ist auch noch der Klosterförster Lang. Ihm ist zwar peinlich, im Dienst bloß der Katholischen zu stehen, doch will er umso stolzer die prächtigste Eiche seines Walds zur Feier des Tages als "Führerstamm" für besonders starke Balken fällen, bevor der Seminarlehrer Gotthard ihm in den Arm fällt. Diese Eiche müsse stehen bleiben, mahnt er, der mit seinen Schülern gern zum Goethe-Lesen unter dem deutschen Baum heraufkommt. Der Förster solle lieber die anderen Bäume drumrum weghauen.

Als Huldigung an den Mut der Verweigerung ist der Roman überzeugend

Mit Sinn für effektvolle Szenensprünge spannt der Autor im beschleunigten Kapitelrhythmus die Ereignisse des schauerlich heiteren Tages auf. Man ist gefesselt von der in den verkünstelt lokalen Sprachklang gepackten Anekdotenvielfalt und zusehends beklemmt vom ganzen Drum und Dran. Es ist, als flimmerte da auch die Atmosphäre von Martin Sperrs "Jagdszenen aus Niederbayern" mit, statt als eindeutige Rückspiegelung der Gegenwart in die braune Vergangenheit wie bei Sperr nun allerdings als latente Vorwegnahme unseres Heute. Mit Halbsätzen wie "... wird Karls Friedlschwester später sagen" rutscht die Erzählung aus der Gegenwart manchmal kurz in die Zukunft ab, ohne zu präzisieren, wann, wo und bei welcher Gelegenheit die Schwester das sagen wird. Als kreiste die Zeit seit jenem besonderen Tag um sich selbst.

Ist das also Regionalliteratur? Ein historischer Roman? Ein Wink für unsere Gegenwart mit dem Zaunpfahl der Geschichte? Eine Parabel über Mitläufertum, Resignation, Verweigerung, Widerstand? Der Autor, hört man, erzähle hier die Geschichte seines Großonkels. Als Huldigung an den Mut der Verweigerung ist der Roman überzeugend, die Vielfalt der Profile lässt keine vereinfachenden Stereotype aufkommen. Jeder hat seine Gründe fürs Mitmachen, und der einzige Querläufer ist auch kein Held, sondern wartet am anderen Morgen am Bahnhof auf den Zug zurück nach Innsbruck.

Das Panorama lässt aber an ein Ausmalblatt mit kunstvoll gezeichneten Schablonen denken, die man beim Lesen in der Fantasie prächtig einfärben kann. Statt eines Abgrunds tut sich dahinter nur ein etwas unheimlicher Hintergrund auf, der ebenfalls zum Kolorieren einlädt. Für einen Geschichtsroman wäre dieses Buch zu pittoresk, für einen epochenübergreifenden Problemroman zu eindeutig datiert. Bleibt das spannende Porträt eines Unbeugsamen, der nach diesem einen Tag wieder in die Anonymität seiner Existenz verschwindet.

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