Süddeutsche Zeitung

"This ain't California" im Kino:Sexuelle Befreiung auf Rollbrettern

Sie lebten die Utopie der reinen und unbegrenzten Skater-Bewegung und das mitten in einem autoritären Regime. "This ain't California" von Martin Persiel ist eine exzellente Dokumentation über die Skateboardszene in der DDR der achtziger Jahre, über freie Zirkulation und freie Liebe.

Philipp Stadelmaier

Eine Gruppe von alten Freunden trifft sich im Sommer 2011 nach vielen Jahren auf einer Beerdigung wieder. Abends beim Lagerfeuer erzählen sie von dem verstorbenen Freund - und von den alten Zeiten. Die Gemeinschaft am Lagerfeuer unter freiem Himmel erinnert an einen Western. An einen von Howard Hawks, wenn man die respektvolle Zugewandtheit und humorvolle Zärtlichkeit zwischen den Leuten betrachtet. An einen von John Ford, wenn man der Erzählung von dem toten Freund lauscht, um den sich die Gemeinschaft am Lagerfeuer einst bildete: "Dennis war die Legende, die alles zusammengehalten hat."

"This ain't California" von Marten Persiel plakatiert jedoch bereits mit seinem Titel, alles andere als ein Western zu sein: Er dokumentiert die Geschichte der Skateboard- oder besser "Rollbrettfahrer"-Szene in der DDR der späten achtziger Jahre. Dass das hier betontermaßen nicht Kalifornien sei, macht aus dem Film jedoch glücklicherweise kein stolzes "Das war der Osten"-Porträt, führt nicht dazu, dass hier ein ostalgisches Bild eines "trotz allem" auch bunten, jugendlichen und lebenswerten sozialistischen Staates gezeichnet wird.

Die Veteranen der alten Ostberliner Szene lassen viel zu wenig Zweifel daran, wie sehr die Freiheiten, die sie sich herausnahmen, zum Problem für das autoritäre und altersschwache Regime wurden. Ihr Held, Dennis, war der unangepasste Rebell par excellence, ein "Anführer und Poet auf dem Skateboard", der alle inspirierte, ein Showman und Randalierer mit Spitznamen "Panik", der fast zum Staatsfeind mutierte und von der Stasi verschleppt wurde.

Schon die ersten Minuten des Films - eine Montage, in der akkurat choreografierte Propagandabilder des Staatsfernsehens von der halsbrecherischen und unbändigen Fahrt eines Skateboardfahrers geradezu umpflügt werden - machen den Konflikt zwischen Staat und Skateboardern überdeutlich. Der Individualismus der Skater steht gegen die sozialistische Massenästhetik. Der gnadenlose Leistungs- und Erfolgsdruck des sozialistischen Sportsystems trifft auf einen entfesselten individuellen Ausdruck ohne Ergebniserwartung: "Du gehst, um wohin zu kommen, aber Skaten ist ohne Ziel", erklärt einmal jemand.

Deswegen waren die Skater aber eben auch keine Protestgruppierung mit politischem Programm. Skaten, das sei nichts als eine in ihrer Freiheit selbstgenügsame Bewegung ohne Bedeutung, erklären die Veteranen. Persiel dynamisiert diese Freude an der schieren Bewegung in einer vorzüglichen Montagearbeit, in der etliche Acht-Millimeter-Skaterfilme aus der damaligen Zeit Eingang gefunden haben: Filme von Skatern über Skater, aufgenommen beim Skaten - Filme, in denen die Bewegung des Skatens mit jener der Kamera zu verschmelzen scheint, um dabei so intensiv wie möglich zu werden.

Geschichte der sexuellen Libertinage

Persiel zeigt so, was die Leute am Lagerfeuer zwanzig Jahre später erzählen: wie diese an sich sinn- und nutzlose Bewegung nach und nach eine ganze Gesellschaft affiziert und dabei unerhört neue ästhetische Erfahrungen erschließt. Das akrobatische Hinweggleiten der Rollbretter über die Betonflächen wird die brachiale sozialistische Architektur neu aneignen, "in einen Spielplatz uminterpretieren", ungeahnt versinnlichen: der Skate-Parcours ist auch ein erotischer, und die Geschichte der Skater eine der sexuellen Libertinage und wilder Promiskuität.

Eine Figur wie der immer braungebrannte Patric, ein Megavögler, der schier ewig im Handstand über den Alex fahren konnte, macht deutlich, worum es damals ging: freie Zirkulation, freie Liebe. Haben Brett und Bett allein dazu gedient, immer in Bewegung zu bleiben, um in eine unendlich entfernte, mythische Weite vorzustoßen?

Und wenn ja, dann hat dieser unendlich weit entfernte Ort einen Namen: Kalifornien. Kein reales, sondern eben ein mythisches Kalifornien, das nirgendwo ist und überall sein kann. Beispielsweise im Spitznamen von Patric - genannt "der Kalifornier" - weil er allen als das "Ideal eines kalifornischen Surfers" vorkommt. Oder auch in flüchtigen Bildern eines Surfers in den pazifischen Wellen, montiert mit Aufnahmen von schönen Ost-Nymphen im Weiher - um die immense Entfernung zwischen ihnen anzuzeigen.

Der Mythos "Panik" jagt die nun Abtrünnigen

Solange die Maxime des Titels gilt und das Ziel der Skater im fernen Westen unerreichbar ferner Mythos bleibt, kann diese glückselig-selbstversunkene, endlose Zirkulation der Skater weitergehen. Die Öffnung der Grenzen zum Westen wird sie jäh beenden. Die Szene fällt auseinander. Panik verschwindet von der Bildfläche. Ein Krieg, den das wiedervereinigte Deutschland zwanzig Jahre später in Afghanistan führen wird, besiegelt sein Schicksal.

Wenn Persiel die Filmdokumente von damals um eigene, fiktionale Aufnahmen ergänzt, dann, um den ephemeren Traum der Ost-Skater vom ewigen Wendekreis ihrer Bretter erneut in Bewegung zu setzen. Ohne dabei je sentimental zu werden: "Du bist nicht traurig, hängst nicht an den Dingen", so der allererste Satz des Films. Skater gehen keine Bindungen ein, sie hängen nicht mal am Skaten. Auch das gehört zu ihrer Utopie der reinen Bewegung: den Traum selbst irgendwann ziehen zu lassen. So haben sich die meisten Veteranen der Szene bestens mit dem Lauf der Geschichte arrangiert.

Ganz im Gegensatz zum nicht wiederversöhnten "Panik". In onirischen, irrealen Animationssequenzen, die sparsam im Film verstreut sind, brechen seine Dämonen, seine Traumata, sein Tod gewaltsam in die Gegenwart ein. Der Mythos "Panik" jagt die Gemeinschaft der Abtrünnigen, die sich ein letztes Mal um seine Leiche versammelt hat, noch immer - um sie mit sich unausgesöhnt zu lassen. Ob sie deswegen Panik ergreift, ist mehr als fraglich.

This ain't California, D 2012 - Regie: Marten Persiel. Kamera: Felix Leiberg. Mit: Christian Rothenhagen, Mirko Mielke. Farbfilm, 90 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 17.08.2012/feko
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