Thilo Sarrazin und seine Leser:Wer hat Angst vorm fremden Mann?

Sind Frauen weniger hysterisch? Die Gesellschaft für Konsumforschung hat für die SZ die Psychologie der Käufer von "Deutschland schafft sich ab" untersucht: Die sind in erster Linie männlich, gehen gerne ins Volkstheater und müssen nicht überall dabei sein.

Tobias Kniebe

Ob es wirklich das "hierzulande am schnellsten verkaufte politische Sachbuch seit 1945" ist, wie häufig zu lesen war, lässt sich wohl nicht mehr abschließend klären. Günter Wallraff erhebt für seinen Enthüllungs-Bestseller "Ganz unten" aus dem Jahr 1985 ebenfalls diesen Anspruch, und die Zahlen von damals sind mit denen von heute nicht exakt vergleichbar. Fest steht, dass Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" derzeit in der 16. Auflage gedruckt wird, dass bisher laut Verlag 1,2 Millionen Exemplare an den Buchhandel ausgeliefert wurden - und dass keine nationale Debatte im vergangenen Jahr höhere emotionale Wellen geschlagen hat.

Auszeichnung 'Mainzer Ranzengardist'

Egal, ob Thilo Sarrzins Buch nun das "hierzulande am schnellsten verkaufte politische Sachbuch seit 1945" ist - man wird weiter darüber diskutieren. Doch sind seine Fans wirklich eine politische Gruppe, mit der man rechnen muss?

(Foto: dapd)

Wer aber waren die Menschen, die dieses Buch gekauft und - wenigstens zum Teil - gelesen haben? Welche Schlüsse werden sie daraus ziehen, als Bürger, Politikinteressierte, Wähler? Diese Frage wird das Land im neuen Jahr begleiten. Bisher gibt es kaum klare Antworten darauf - eher Spekulationen. Diese führen so weit, dass manche bereits von einer neuen Protestpartei phantasierten, die Sarrazin ins Leben rufen, an deren Spitze er sich jederzeit setzen könnte. Gewaltige Turbulenzen im Parteiensystem, ja ein Rechtsruck des Landes wären in diesem Szenario die Folge. Aber unabhängig davon, ob das realistisch ist: Stellt die Gemeinschaft der Sarrazin-Leser wirklich eine politische Kraft dar, mit der zu rechnen sein wird?

Um das zu erfahren, reicht es nicht, das Publikum diverser Sarrazin-Auftritte in Augenschein zu nehmen. Die Mischung aus bürgerlichem Habitus und geistiger Aggressivität, die bei diesen Anlässen zu beobachten war, kann bei einem solchen Breitenphänomen nicht als repräsentativ betrachtet werden. Bleibt die Methodik, auf die sich ja auch Sarrazin selbst vor allem stützt, die Interpretation gesellschaftlicher Entwicklungen und Zusammenhänge anhand repräsentativ erhobener Daten (dass er anscheinend viele dieser Daten falsch oder tendenziös ausgewertet oder interpretiert hat, wie die Soziologin Naika Foroutan in einer aktuellen Untersuchung seiner Zahlen behauptet, kann hier nicht vertieft werden, es sei aber verwiesen auf ihre Studie: www.heymat.hu-berlin.de/dossier-sarrazin-2010). Kann man dieses Instrument auch auf die Sarrazin-Käufer anwenden?

Aber sicher. Mit der Untersuchung, die wir hier vorstellen, stehen nun tatsächlich relevante Daten zur Verfügung. Die Zahlen wurden weder mit explizit politischem Fokus erhoben noch mit besonderem Augenmerk auf Religion oder Migrationshintergrund. Erfasst ist das, was Statistiker die "deutsche Wohnbevölkerung" nennen. Das führt zwar zu Erkenntnislücken, garantiert aber, dass die Ergebnisse nicht durch spezifische Fragestellungen zugespitzt und politisiert wurden. Sie sind Teil einer andauernden Untersuchung des Buchmarkts durch die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in Nürnberg, die für die Süddeutsche Zeitung ausgewertet wurde.

Dabei wird ein Panel von 10000 Personen befragt, die nach Geschlecht, Alter, Schulbildung, Haushaltseinkommen und Region repräsentativ für die deutsche Wohnbevölkerung ausgewählt wurden. Auch zu ihrer Mediennutzung, Lebensführung, finanziellen Lage und anderen Fragen machen diese Menschen detaillierte Angaben. Sodann wird ihr Kaufverhalten auf dem Buchmarkt monatlich abgefragt und vierteljährlich ausgewertet. Ist die Auflage eines einzelnen Buchtitels hoch genug, kann man aus der Korrelation der Daten ein ziemlich exaktes Profil erstellen: voilà, der typische Sarrazin-Leser.

Die erste zentrale Erkenntnis, die in dieser Klarheit doch überrascht, liefert der Blick auf das Geschlecht der Käufer: Die Angst vor dem Niedergang Deutschlands ist offenbar ein überwältigend männliches Phänomen. Bekanntermaßen sind Frauen als Buchkäufer und Leser im Normalfall wesentlich aktiver als Männer, viele Bestseller verdanken sich dem Zuspruch eines explizit weiblichen Publikums. Bei Sarrazin kehrt sich das Verhältnis um: 62 Prozent der Käufer sind männlich. Sie haben das Buch überwiegend für sich selbst gekauft und sind mit dem Ziel, es zu erwerben, losgezogen - Spontankäufe nahezu null. Wenn man jene Frauen hinzurechnet, die das Buch nur für ihren Mann gekauft haben, steigt die Zahl der männlichen "Empfänger" des Buches sogar auf 69 Prozent.

Lesen Sie auf Seite 2, welche Rolle die Altersstruktur spielt.

Besserverdienende fühlen sich angesprochen

Überraschend ist das auch deshalb, weil Frauen nicht dafür bekannt sind, Bildung und Berufschancen ihrer Kinder als unwichtiges Thema zu betrachten. Spricht das nun dafür, dass Frauen die Dinge generell etwas gelassener sehen, Männer hysterisch auf Untergangsszenarien reagieren? Oder ist es doch der spezifische Sarrazin-Ton, der das weibliche Publikum abschreckt? Das wird genauer zu betrachten sein. Denkbar wäre auch, dass Sarrazins Selbstbeschreibung als "Sozialingenieur" tatsächlich eher männlich-technische Impulse anspricht, sozusagen den Gesellschaftsbastler im Mann.

Wo steuert das Land hin?

Die Altersstruktur der Käufer weicht an drei Stellen deutlich von der Gesamtbevölkerung ab: Das Alter bis 19 Jahre ist schwächer vertreten, die über Sechzigjährigen dagegen überproportional stark. Das überrascht nicht. Interessant ist aber, dass das Buch auch bei der Altersgruppe 20 bis 29 Jahre auf überdurchschnittliches Interesse stieß. Weitere Zahlen bestätigen dies: Wer sich gerade selbst in der Phase von Berufsstart und Studium befindet, wollte es offenbar doch genauer wissen: Wo steuert dieses Land hin, welche Möglichkeiten bleiben für mich? Die Zustimmung zu dem Satz "In meinem Leben steht beruflicher Erfolg an erster Stelle" ist unter Sarrazin-Käufern mehr als zwei Drittel höher als in der Gesamtbevölkerung - ein signifikanter Ausschlag.

Weiter geht es mit dem Haushaltsnettoeinkommen und der Schulbildung. Wo das Einkommen die 2000-Euro-Marke unterschreitet, nehmen die Käufer im Verhältnis ab - je höher es wird, desto häufiger besitzen sie das Buch. Dasselbe gilt für Menschen mit Abitur und/oder Studium. Wo die Gesellschaft für Konsumforschung ihr Panel in sogenannte Lebenswelten unterteilt, die generell dazu dienen, das Kaufverhalten bestimmter Gruppen und Schichten besser vorhersagbar zu machen, trifft man immer wieder auf dasselbe Bild: Im jungen und mittleren Alter fühlten sich die Besserverdiener und Aufsteiger von Sarrazins Thesen überdurchschnittlich angesprochen, bei den Älteren ist es die Mittelschicht. Ältere Menschen aus der "Arbeiterschicht" und Männer in sogenannter "einfacher Lage" interessieren sich dagegen signifikant weniger dafür. Mit der Lebenswelt-Zuschreibung der "einfachen Lage" erfasst die GfK Personen im erwerbsfähigen Alter, die unter anderem vom "Status ihrer Tätigkeiten" im unteren Viertel der gesellschaftlichen Ansehens angesiedelt sind. Auch Arbeitslose fallen darunter.

Das scheint zunächst die Vorstellung zu bestätigen, dass hier eher elitär über Probleme geurteilt wird, die jene Menschen in der Regel nicht selbst betreffen, die darüber urteilen. Wobei aber im Bildungs-Diagramm die Hauptschüler eine Ausnahme bilden: Sie stellen 21 Prozent der Käufer, das liegt nur knapp unter ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Einer der wenigen Hinweise darauf, dass "Deutschland schafft sich ab" auch Leser in jenen Bildungsschichten erreicht haben könnte, denen das Buch so gar kein Zukunftspotential zusprechen mag.

Immer facettenreicher wird das Bild, wenn man eine Reihe von Präferenzen und Lebenseinstellungen betrachtet, in denen sich der durchschnittliche Käufer auffällig vom Durchschnitt der Gesamtbevölkerung unterscheidet. Dabei wird den Befragten eine Reihe von Aussagen vorgelegt, anschließend wird nach dem Grad ihrer Zustimmung oder Ablehnung gefragt. In der nebenstehenden Auswertung wurden dabei jeweils nur die obersten Kategorien der Zustimmung berücksichtigt, die Antworten "stimme voll und ganz zu" oder "stimme etwas zu". Der Durchschnittskonsens der Deutschen in diesen Fragen bildet dabei eine Art Mittellinie, die im Zentrum herunterläuft, während man den Sarrazin-Leser rechts und links aus der Reihe tanzen sieht: Dinge, die ihm wichtiger sind, oder denen er stärker zustimmt, schlagen rot nach rechts aus, Dinge, die er für unwichtiger oder unzutreffender hält, ergeben einen blauen Ausschlag nach links.

Kurios erscheinen zunächst Erkenntnisse zur Mediennutzung. Da zeigt sich der Sarrazin-Leser an politischen Nachrichten im Fernsehen und an journalistischer Lektüre überdurchschnittlich interessiert. Das war zu erwarten, andernfalls kauft man wohl keine politischen Sachbücher. Die allerhöchsten Affinitäten im Fernsehen erzielten dann aber doch "Kabarett- und Satiresendungen" (56 Prozent über Durchschnitt) sowie "Boulevardstücke, Volks-, und Bauern-Theater". Gibt es hier einen geheimen humoristischen Aspekt, der allen bisher entgangen ist?

Faszinierend, schon im eigenen Interesse, ist natürlich der Blick auf die Tageszeitungen. Bis auf die taz (minus 11 Prozent) liegen sie in der Gunst des Sarrazin-Lesers alle über dem Durchschnitt, wobei Bild (plus 4) und Bild am Sonntag (plus 18) so wenig auffallen, dass diese ihre Sarrazin-Elogen getrost zurückfahren können. Die Süddeutsche (plus 43) erscheint zunächst einigermaßen affin, wird aber dann von Welt (plus 146), Zeit (plus 154) FAZ (plus 177) und Welt am Sonntag (plus 239) schon wieder an den linken Rand der Nörgler zurückverwiesen. Über allen aber thront, beinah den Rahmen der Infografik sprengend, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (plus 474). Frank Schirrmacher im Diskurs mit Thilo Sarrazin, dazu ein Sonntagsfrühstück - diese Kombination hat ein bestimmtes Publikum offenbar sehr glücklich gemacht.

Lesen Sie auf Seite 3, wie Sarrazin und ein geputztes Wohnzimmer zusammenhängen.

Die Käufer sind nicht gerade aufgeschlossen

Was die generellen Lebenseinstellungen der Käufer betrifft, gruppiert sich ein interessanter Block recht kuschelig um eine geregelte Häuslichkeit: "Harmonisches Privatleben" und "Sauberkeit der Wohnung" stehen hoch im Kurs, und auch der Klassiker-Satz "Am wohlsten fühle ich mich zu Hause" findet Zuspruch. Fast genauso hoch rangiert ein anderer konservativer Allgemeinplatz (Grafik 1): "In meiner Lebensführung mag ich keine Veränderungen, ich halte mich lieber an meine alten Gewohnheiten."

Dann wird es karger

Trends und Moden verfolgt der Sarrazin-Käufer eher zurückhaltend. "Der Erste, der dabei ist" will er nicht unbedingt sein, Unterhaltungselektronik muss nicht fortwährend auf den neuesten Stand gebracht, nicht jedes neue Produkt ausprobiert werden. Nur eine Aussage reißt ihn bei diesem Thema aus seiner Indifferenz: "Ich bin interessiert zu erfahren, was heutzutage so ,in' ist". Ja, das ist er, deutlich mehr als der Durchschnitt.

Der Gang zur Buchhandlung indessen muss wohl als außergewöhnliche Aktivität bezeichnet werden: "In meiner Freizeit unternehme ich viel" - nein, das können Sarrazin-Käufer nicht bestätigen. Sie schätzen sich selbst 16 Prozent weniger aktiv ein als der Durchschnittsdeutsche. Dann wird es karger. Das "Leben in vollen Zügen genießen" ist noch weniger gefragt, da beträgt der negative Ausschlag in Richtung Askese und sorgenzerfurchter Selbstkasteiung schon gute 25 Prozent. Entscheidungen "spontan und mehr aus dem Gefühl heraus"? Nicht wirklich. Vollends ins Negative sackt die Kurve bei der Aussage "Ich gehe gerne Risiken ein" - da landet die Statistik bei dem sagenhaft risikofeindlichen Wert von minus sechzig Prozent. Wer nicht zu den Sarrazin-Käufern gehört, ist um zwei Drittel aufgeschlossener, sobald es darum geht, auch mal ein Wagnis einzugehen. Ob sich mit einer Wählergruppe, die bei Abenteuern und Risiken um keinen Preis mitmachen möchte, wirklich viel bewegen lässt?

Behaglicher wird es in dem Moment, wo die Finanzen ins Blickfeld rücken. Die treiben den Sarrazin-Käufer nicht allzu sehr um. Auf Sonderangebote achtet er weniger als Otto Normalverbraucher, und der Unterstellung, er könne sich "nur das Nötigste anschaffen", widerspricht er entschieden. "Ich habe finanziell in ausreichendem Maße für das Alter vorgesorgt", das trifft es schon eher, da ist er sich relativ sicher - zwanzig Prozent sicherer zumindest als der Rest seiner Landsleute.

Eher absurd wird das Bild, wenn man nun den oben schon zitierten Wert der Erfolgsorientierung dagegenstellt: "In meinem Leben steht beruflicher Erfolg an erster Stelle." Dieser Satz ist dem Sarrazin-Käufer wie gesagt sehr wichtig: Plus 74 Prozent über dem Durchschnitt - ein noch stärkerer Ausschlag als bei der Risikovermeidung. Das bringt man allerdings kaum mehr zusammen: Hat irgendwer schon mal Erfolge erzielt, ohne das geringste Risiko dafür einzugehen?

Die Widersprüche, die sich insgesamt zeigen, sind bemerkenswert. Sie lassen kaum vermuten, dass von dieser gesellschaftlichen Gruppe größere Taten ausgehen werden, etwa die Gründung einer Partei - das wäre, gemessen an den ermittelten Einstellungen, das reinste Kamikaze-Unternehmen. Auch die Hoffnung, die viele Apologeten der Debatte formuliert haben - erst mal müssen die unangenehmen Wahrheiten beim Namen genannt werden, dann packen wir das Problem tatkräftig an - sollten sich eher nicht primär auf den Sarrazin-Leserkreis fokussieren.

Die Grundhaltung könnte im Gegenteil eher Anlass sein, eine gewisse Schizophrenie zu diagnostizieren: ein eiserner Wille, an der Spitze zu stehen - aber bitte Veränderung? Eine Leistungselite, die das Wohnzimmersofa nicht mehr verlässt? Ein wenig spiegelt das, was hier sichtbar wird, auch die späte Berufung des Thilo Sarrazin selbst, der hier sicher auf das Verständnis seiner Fans trifft. Ein ganzes Berufsleben hat der Mann im gesicherten Beamtenstatus verbracht, bevor er in die risikoreiche Existenz des Volksdemagogen aufbrach. Nicht ohne allerdings vorher noch den letzten Cent seiner Pensionsansprüche einzufordern.

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