Süddeutsche Zeitung

Theorie der Gewalt:Hässliche Wirklichkeit

Die westliche Welt muss die Zusammenhänge von Gewalt in der Moderne verstehen lernen. Denn nur durch Sensibilisierung lässt sich Barbarei verhindern. Grundzüge einer Theorie der Gewalt.

Jan Philipp Reemtsma

Es gibt eine Frage, die Sie alle kennen, und die Sie vielleicht auch von mir traktiert sehen möchten. Es ist die Frage, wie es denn möglich sei, dass "ganz normale" Männer - oder gar: "ganz normale Familienväter" - unvorstellbare Grausamkeiten begehen, sich an Massakern beteiligen, nicht nur andere Männer, sondern auch Frauen und Kinder töten, Menschen demütigen, foltern, im Namen der Wissenschaft zu Tode quälen. Diese Frage treibt uns um. Dennoch ist es eine alberne Frage.

Die Frage ist darum albern, weil die Antwort auf der Hand liegt: Wer denn sonst? Als Alexander Mitscherlich zusammen mit Fred Mielke über die Verbrechen der deutschen Medizin zurzeit des Nationalsozialismus geschrieben hatte, hielt ihm ein Ärztefunktionär vor, er denunziere die gesamte Zunft wegen ein paar verrückter Sadisten.

Rätsel Mensch

Mitscherlich antwortete, um Verbrechen dieses Ausmaßes zu verstehen, könne man nicht auf die Annahme zurückgreifen, sie seien von verrückten Sadisten begangen worden - so viele gebe es nämlich von dieser Sorte nicht. Und dasselbe kann man von den Verbrechen deutscher Soldaten in der Sowjetunion, von den Wachmannschaften in den deutschen Konzentrationslagern, von den Folterkommandos des NKWD oder moderner lateinamerikanischer Diktaturen sagen.

Um das zu wissen, braucht man nicht auf die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zurückzugreifen. Wir können auf die Exzesse der französischen Armee in der Vendée sehen, wir können an die Greuel der spanischen Konquistadoren denken oder an die Massaker der römischen Soldaten in Gallien.

Das ist so; Menschen können das und tun es immer wieder. Menschen können auch Musik machen oder Bilder malen, und wenn wir das beobachten, fragen wir uns auch nicht, wie es denn bloß möglich sei, dass ganz normale Familienväter Klavier spielen. Und die Unterstellung, die in der Rede von den ganz normalen Familienvätern steckt, dass jemand, der über Tage Menschen quält, wenn er nach Hause kommt, das irgendwie im familiären Rahmen fortsetzen müsse, und wenn er das nicht tut, ein besonderer Erklärungsbedarf vorliege, ist ebenfalls nur albern und ebenso plausibel wie der Gedanke, dass ein Maler, der sein Atelier verlässt, zu Hause seine Kinder anmalt.

Wie ist Gesellschaft möglich?

Nein, die eigentliche Frage ist diese: Warum stellen wir uns hartnäckig eine so offensichtlich alberne Frage? Für die Antwort bedarf es einiger Überlegungen, die auf das Folgende hinauslaufen: Die Kulturformation, die wir "die Moderne" nennen - das heißt jene aus den Krisen des 16. und 17. Jahrhunderts hervorgegangene europäisch-atlantische Kultur - unterscheidet sich von anderen Kulturen dadurch, dass sie Gewalt unter einen besonderen Legitimationsdruck gestellt hat. Sie ist gleichwohl eine zumindest phasenweise extrem gewalttätige Kultur gewesen. Sie hat in diesem Spannungsfeld bestimmte Formen der Gewalt verleugnet, wegerklärt und verrätselt. Kurz: Die Frage nach den ganz normalen Familienvätern ist Ausdruck des Problems, das unsere Kultur mit der Kluft zwischen Norm und Wirklichkeit hat.

Um nun das Verhältnis der Moderne zur Gewalt genauer fassen zu können, muss ich einen theoretischen Exkurs einschalten. Wer sich in der soziologischen Theorieentwicklung ein wenig auskennt, weiß, dass in den letzten zehn Jahren ein Thema sehr viel Diskussionsraum gewonnen hat, das Thema "Vertrauen".

Über das Thema "Vertrauen" ist jene Grundfrage der Gesellschaftstheorie neu angesprochen worden, die bei Georg Simmel vielleicht am wuchtigsten formuliert worden ist: "Wie ist Gesellschaft möglich?" Dieselbe Frage hatte bei David Hume noch die Fassung erhalten, warum eigentlich die Gesellschaftsmehrheit der regierenden Minderheit auch dann folgt, wenn sie deutliche Nachteile davon hat.

Klassischerweise sind Fragen dieser Art beantwortet worden, indem man sich auf die "harten" Medien sozialer Kohäsion bezog: Macht, Herrschaft, Interessen - nicht zuletzt mit dem Hinweise auf die Gewalt, die eben "letztlich" hinter den Formen der Macht- und Herrschaftsausübung und dem Durchsetzen von Interessen stecke. Schon Hume erkannte, dass das wenig erklärt. Seine Antwort war: "opinion", was mit "Meinung" nur unbeholfen übersetzt wäre. Man muss wohl sagen: "Einverständnis", und im Vokabular gegenwärtiger soziologischer Theorie eben: "Vertrauen".

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wann Gewalt angebracht ist.

Die Ökonomie zum Beispiel weiß inzwischen, dass etwas wie das Währungssystem nur funktioniert, weil die Leute Vertrauen in sein Funktionieren haben. Auch als alle noch an die Absicherung der Währung durch Goldvorräte glaubten, mussten sie darauf vertrauen, dass Gold morgen noch so viel gelten werde wie heute. Und da man mit Gold rein praktisch nicht viel anfangen kann, war dieses Vertrauen von derselben Art wie unser Vertrauen in das von jeder Dinglichkeit abgelöste System von Papierstücken, Versprechen, Krediten, Schulden, Buchungen und so weiter.

System Vertrauen

Wie sind diese Formen des Vertrauens soziologisch-begrifflich zu fassen? Da liegt der Hase im Pfeffer. Ich spreche nicht von "personalem" oder "System" Vertrauen, sondern von "sozialem Vertrauen". Vertrauen in diesem Sinn bedeutet, dass wir uns gegenseitig permanent zu verstehen geben, dass wir daran glauben, dass der Laden weiterläuft, und zwar unabhängig von der weltanschaulichen Meinung, dass wir dieses So-weitergehen gutheißen oder hassen. Dieser Glauben spielt sich im Zusammenspiel dreier Dimensionen ab: Interaktion, Institution, Imagination.

Interaktion: Wir setzen gewisse Erwartungen in das Verhalten unserer Mitmenschen und vertrauen darauf, vielleicht im Einzelfall, aber nicht dauernd und nicht mehrheitlich enttäuscht zu werden. Institution: Wir vertrauen darauf, dass die sozialen Institutionen funktionieren, und wo sie das mal nicht tun, erwarten wir, dass nicht alles aus dem Ruder läuft. Imagination: Wir haben eine gewisse Vorstellung davon, wer wir gemeinsam sind, und erwarten, dass diese Vorstellung von den meisten geteilt wird, weshalb wir annehmen, dass es, wenn etwas nicht erwartungsgemäß funktioniert, ein gemeinsames Anliegen ist, das wieder in Ordnung zu bringen.

Vertrauen bedeutet nicht, kein Misstrauen zu haben. Misstrauen ist eine Strategie des Vertrauenserhaltes: weil man eben weiß, wann, wo, wem gegenüber man misstrauisch sein muss, und wann, wo und wem gegenüber eben nicht.

Wann ist Gewalt angebracht?

In dem Zusammenspiel von Interaktion, Institution und Imagination vollzieht sich ein permanentes Entwerfen des Normalfalles. Und zur Vorstellung und zum permanenten, durch unser soziales Handeln bekräftigten Entwurf von Normalität gehört ein Konsens darüber, welchen Ort die Gewalt in der Normalität hat. Keine Kultur ist schlechthin gewalttätig oder gewaltabstinent. Überall gibt es eine ziemlich einfache Aufteilung. Gewalt ist verboten, geboten oder erlaubt. Ein einfaches Beispiel ist der Boxring: Gewalt ist insofern erlaubt, als die Kämpfer einander zu Boden schlagen dürfen; Gewalt ist insofern verboten, als Tiefschläge nicht erlaubt sind; Gewalt ist geboten, weil ein Kämpfer wegen Untätigkeit disqualifiziert werden darf.

Bis vor kurzem war es Eltern erlaubt, ihre Kinder zu schlagen, und Männern, ihre Ehefrauen zu vergewaltigen. Es geht hier nicht um die moralische Empörung, die wir empfinden mögen, sondern darum, dass sich auch unsere moralischen Maßstäbe ändern, und zwar je nachdem, was für uns der Normalfall ist, den wir durch unsere Konzepte sozialen Vertrauens perpetuieren.

Ich komme jetzt zu einer Behauptung, die Sie vielleicht irritieren wird. Unsere Kultur der Moderne hat nicht nur ein anderes Konzept der Sortierung von erlaubter/gebotener/verbotener Gewalt, sondern ein von Grund auf anderes, nämlich das, dass Gewalt - und das heißt: nicht nur Gewalt am falschen Ort, zur falschen Zeit, gegenüber den falschen Leuten - an sich ein Problem ist.

Zunächst kann man die Frage stellen, ob das denn tatsächlich so sei. Nun, man kann eine Menge Beobachtungen zusammentragen, etwa die, dass das Werk von Thomas Hobbes das erste philosophische Werk der Geschichte gewesen ist, das sich vor allem diesem Problem gewidmet hat: Wie ist Gewalt zu begrenzen. Noch bei Machiavelli lautete die Frage: Wann ist Gewalt in welchem Maße angebracht?

Gewalt ist legitim, wo Gewalt vor schlimmerer Gewalt schützen soll

Man befasse sich mit der Geschichte der Abschaffung der Folter. Man lese, wie Europa lernte, in Hexen nicht mehr abscheuliche Schadenstifter zu sehen, sondern leidende Menschen, denen die Qual, der sie unterworfen waren, abnötigte, auch die absurdesten Dinge zu gestehen. Man lese über die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, die losgelassenen Soldaten in eroberten Städten und vergleiche die Schilderung der französischen Besatzung Frankfurts in Goethes "Aus meinem Leben": Der bei seinem Vater einquartierte Offizier legt Wert darauf, die Tapeten zu schonen und verzichtet darauf, seine Karten mit Nägeln an der Wand zu befestigen.

Vor allem aber: In der Moderne wird Gewalt, wo sie doch vorkommt und für notwendig gehalten wird, ganz anders legitimiert als zuvor. Die Todesstrafe war vordem eine Selbstverständlichkeit. Heute sagen auch ihre Befürworter, man könne "leider" oder "leider noch" nicht auf sie verzichten. Einen Verbrecher zu töten war vormodern ein Zeichen, dass der Souverän das Recht über die Körper seiner Untergebenen hatte. Heute wird gestraft, um Gewalt zu verhindern. Auch Kriege waren vordem eine Selbstverständlichkeit - heute werden Kriege geführt, um (weitere, schlimmere) Kriege zu verhindern - der Erste Weltkrieg war "the war to end all wars". Gewalt ist nur noch legitim, wo Gewalt vor schlimmerer Gewalt schützen soll.

Auf der nächsten Seite analysiert Jan Philipp Reemtsma den Konnex von Macht und Gewalt.

Das ist die Selbst-Imagination der Moderne: Sie ist eine Kultur, für die Gewalt nicht selbstverständlich ist und die sie abzuschaffen sucht. Eine solche Selbst-Imagination wird man, wie ich meine, in keiner anderen Kultur finden.

Soviel zur Imagination. Nun zur Interaktion. Gewalt im öffentlichen Raum wird zunehmend geächtet und eingeschränkt. Wir laufen nicht mehr selbstverständlich mit einem Degen an der Seite herum, und eine Prügelei ist selbst unter Heranwachsenden keine tolerable Form der Auseinandersetzung mehr. Gewalt ist nicht mehr einfach "da", sondern ein Problem und kriminell.

Massenmord und Folter im Namen einer besseren Zukunft

Institution: Die Moderne bringt etwas hervor, das es so zuvor nicht gegeben hat, das staatliche Gewaltmonopol. Es hat dafür zu sorgen, dass Gewalt nur noch staatlicherseits und zwar zur Verhinderung von Gewalt oder zur Ahndung außerhalb des Monopols ausgeübter Gewalt stattfindet. Zusammengenommen ist es das, was das Vertrauen in der und in die Moderne charakterisiert: die Unterstellung gewaltfreier Interaktion, das staatliche Gewaltmonopol als Institution, die diese Interaktion möglichst weitgehend kontrolliert (und wo das nicht funktioniert hat, die Ordnung symbolisch - durch Strafen - wiederherstellt), die gemeinsame Imagination, dass diese Moderne funktioniert, das heißt auf dem Wege in eine Zukunft ist, die immer weniger Gewalt möglich und nötig macht.

Und dann, wie es Stephen Toulmin einmal formuliert hat, stürzte das Dach ein. Völkermord, ein entgrenzter Krieg ohne Präzedenz in der Moderne, Waffen, mit denen man demonstrieren konnte, dass man ganze Bevölkerungen einfach auslöschen konnte, Massenmord und Folter im Namen einer besseren Zukunft.

Wie das geschehen konnte, ist nicht rätselhaft, sondern Gegenstand quellenorientierter Geschichtsschreibung. Es ist in der Geschichte schon öfter vorgekommen, dass Gesellschaften das, woran sie zu glauben schienen, über den Haufen warfen. Thukydides beschreibt die Transformation einer einigermaßen zivilen Gesellschaft in einen Haufen hysterischer Paranoiker. Da gibt es keine Rätsel zu lösen, sondern es gilt nur, genau zu beschreiben, welche Handlung auf welche Handlung folgte. Man lese Saul Friedländer, man lese die Bücher, die zum Holocaust, der Entschlussbildung zum Abwurf der Atombombe auf Hiroshima, zum Vietnamkrieg, zu den Verfolgungen in der Sowjetunion erschienen sind. Dennoch meinen wir immer wieder, vor einem Rätsel zu stehen.

Zerstörung des Körpers

Dabei sollten wir uns vielmehr fragen, warum wir - trotz der Desillusionierung, die die Katastrophen des 20. Jahrhunderts doch waren - dennoch an dem Projekt der Moderne und am Vertrauen in dieses Projekt festhalten. Die Antwort auf diese Frage besteht aus zwei Teilen. Erstens haben wir in der Moderne eine bestimmte Form der Gewalt so erfolgreich geächtet, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen können, und wo wir nicht umhinkommen, sie dennoch zu sehen, sie nur als pathologische Monstrosität erkennen. Zweitens haben wir, und zwar bis in den Kern unseres theoretischen Denkens hinein, verlernt, Gewalt auch als ein Kommunikationsmittel wahrzunehmen.

Zunächst zum ersten Teil der Antwort. Wenn man eine Phänomenologie der Gewalt schreiben will, dann muss man drei Formen des Körperbezugs unterscheiden: Man kann den Körper eines anderen wegschaffen wollen, weil er einem im Wege steht (ganz egal, wohin - einen Safe, in die Hauptstadt eines anderen Landes). Man kann diesen Körper, der einem da im Wege steht, bedrohen, man kann ihn handlungsunfähig machen, man kann ihn töten. Die Gewalt, die man ihm antut, ist aber nicht auf diesen Körper selbst gerichtet, sondern dient dem verfolgten Ziel. Ich nenne das, weil es sich auf den Ort des Körpers bezieht, "lozierende" Gewalt.

Man kann auch den Körper eines anderen haben wollen, um etwas mit ihm anzustellen: "raptive" Gewalt; meist sexuelle, aber über Psychologie rede ich hier nicht. Lozierende Gewalt will den Körper weghaben, raptive Gewalt will ihn haben.

Und schließlich gibt es Gewalt, die darauf aus ist, den Körper zu zerstören, und zwar nicht als Resultat oder Begleiterscheinung einer anderen Gewaltform, sondern als auf diesen Körper gerichtete Intention. Ich nenne diese Form der Gewalt "autotelische". Unsere abendländische Literatur beginnt mit der Schilderung eines Exzesses autotelischer Gewalt: Es reicht Achill nicht, Hektor zu töten, er will dessen Körper zerstören. Rom hat an dem öffentlichen Entzücken an Inszenierungen autotelischer Gewalt ein Gebäude errichtet, das zu den berühmtesten der Welt gehört: das Kolosseum. Die Hinrichtungsrituale der frühen Neuzeit waren die Demonstration, dass der Souverän das kann und darf: einen Körper zerstören und ausweiden.

Macht und Gewalt

Die Hinrichtungsschauspiele der Französischen Revolution, bei denen das Publikum johlte, bei denen sich der Boden unter der Guillotine in einen Blutsumpf verwandelte, wo Hunde dieses Blut aufleckten, und Henker die Finger der Toten als Amulette verkauften, waren Orgien autotelischer Gewalt. Wenn man liest, was deutsche Ärzte den Menschen antaten, die ihnen zu Zwecken des Experimentierens überantwortet wurden, stellt man fest, dass ein großer Teil wenigstens dieser Experimente keinen Sinn hatte, den man etwa beschreiben könnte als "wissenschaftlich begreifbar, wenn auch unethisch", sondern das bloße Zerstören von Körpern war; man zerstörte sie, weil einem die Macht dazu gegeben war.

Diesen Zusammenhang von Macht und Gewalt haben wir in der Moderne geächtet und dabei verlernt, ihn wahrzunehmen. Gewalt ist für uns entweder lozierende Gewalt, die illegitim (Verbrechen) oder legitim (zur Verbrechensverhinderung) oder in Kriegen ausgeübt wird, um den bedrohlichen Feind zu entwaffnen. Raptive Gewalt ist entweder kriminalisiert oder - in Kriegen - verleugnet und ist heute auch in familiärem Rahmen nicht mehr geduldet. Autotelische Gewalt ist etwas, das wir allenfalls als eine spezifische Verrücktheit wahrnehmen - mit Abscheu in der Wirklichkeit, medial (Stichwort "Serienkiller") mit einem gewissen Gruseln.

Wo autotelische Gewalt die Politik bestimmt, verstehen wir sie nicht und nehmen sie nicht wahr. Das massenhafte Umbringen von Juden in Europa muss doch irgendeinen Sinn gehabt haben! Man wollte Wohnungen freimachen, Wirtschafts- oder Bevölkerungspolitik betreiben oder was auch immer. Ja, der Einsatz der beiden Atombomben war schrecklich, vielleicht auch moralisch nicht zu rechtfertigen, aber er war eine kriegerische Maßnahme, vielleicht auch ein furchtbares technisches Experiment - und das ist ja auch gar nicht falsch. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Die versteht man erst, wenn man die unheimliche Fröhlichkeit von Truman und seines Kriegsministers Stimson ganz ernst nimmt, ihr Entzücken darüber, Menschen zu sein, die über ein derartiges Zerstörungspotential gebieten.

Auf der letzten Seite erfahren Sie, warum Selbstbewusstsein und Angst sensibilisieren.

Menschen haben diese Fähigkeit, es ist die größte Macht, die einem Menschen geboten werden kann, andere Körper nach Willkür zu zerstören. Und wir erkennen die Risiken nicht, die mit wie auch immer beschaffener Gewaltausübung verbunden sind, wenn wir die Tatsache, dass der Mensch immer und zu allen Zeiten zu autotelischer Gewaltausübung wenigstens verführbar war, ignorieren.

Das berühmte Zimbardo-Experiment - fiktional nachgestellt im Film "Das Experiment" - zeigt, was die Geschichte über die Jahrhunderte gezeigt hat, und was uns die Fotos aus Abu Ghraib gezeigt haben: Wenn man Areale schafft, wo autotelische Gewalt ausgeübt werden kann, wird sie ausgeübt werden. Wohlgemerkt ich sage nicht: von jedem. Aber von zureichend vielen. Und nicht von Leuten, die vorher oder nachher pathologische Auffälligkeiten gezeigt hätten.

Gewalt als Medium der Kommunikation

Zum zweiten Teil der Antwort, der kommunikativen Seite der Gewalt: Wenn Sie sich das Werk von Jürgen Habermas vor Augen führen, so gibt es dort - in der Theorie, nicht in den politischen Schriften, versteht sich - die Gewalt nicht. Aus einem einfachen Grund: Es handelt sich um eine Theorie kommunikativen Handelns, und so, wie dort Kommunikation verstanden wird, ist Gewalt der Abbruch der Kommunikation.

Doch auch Gewalt kann ein Akt der Kommunikation sein, das zeigt etwa das System Mafia, deren Gewaltakte sich immer auch an Dritte richten. Eine komplexe Botschaft: "Wir dulden nicht, wenn man sich unseren Wünschen verweigert, benimm dich anders als der, der hier tot auf dem Marktplatz liegt, in Palermo haben wir das Sagen, Rom ist weit, setze nicht auf das staatliche Gewaltmonopol, auf gewaltfreie Interaktion und übernimm die Imagination von dem, was du bist und was wir sind, von uns."

Aber auch autotelische Gewalt hat an sich einen kommunikativen Gehalt. Die hinrichtende und zerstückelnde Obrigkeit sagt: "Ich kann das, darf das, und so ist die Weltordnung." Die Polizei, die einen Gefolterten zu seiner Familie bringt, um ihn ihr zu zeigen und dann wieder mitnimmt, sagt dasselbe: "Ich kann das, darf das" - und, wie ein argentinischer Folterer es wörtlich sagte: "Wir sind Gott." Das steckt in der autotelischen Gewalt - sein wie Gott, die Welt ersäufen oder verbrennen zu können. Sie waren wie Gott, und sie ließen es alle wissen: etwa Amon Göth aus dem Film "Schindlers Liste", den Schindler in Versuchung führen wollte, es abwechslungshalber mal mit dem Begnadigen zu versuchen, und der dann merkte, dass ihm das Erschießen einfach mehr Spaß machte.

Moralische und juristische Bewertungen

Wenn Stalin anordnete, dass in einer bestimmten Region zehntausend Verräter zu deportieren und umzubringen seien, hatte das einerseits instrumentell überhaupt keinen Sinn, andererseits einen eminent kommunikativen: Es war die Demonstration totaler Macht, es war die Freude, jemand zu sein, der so etwas tun lassen kann, es war eine Nachricht, dass keiner vor dem Zugriff sicher ist.

Das 20. Jahrhundert ist darum nicht nur ein Jahrhundert extremer Gewalt und der Exzesse autotelischer Gewalt gewesen, sondern auch ein Jahrhundert der Kommunikation mit Gewalt. Die Re-Etablierung der Standards der Moderne ging nun genau über den Weg, diese kommunikative Seite wieder zu vergessen oder gar zu verleugnen. Das ist bis heute eine ambivalente Angelegenheit: Einerseits gelang es eben, diese Standards wiederzugewinnen, andererseits war der Preis ein fundamentales Sich-selbst-nicht-Verstehen, die eigene Geschichte zu verrätseln, den Charakter der Gewalt zu verkennen und so erneut Illusionen zu produzieren.

Ich möchte zum Schluss dieses Vortrags auf drei Wege eingehen, die kommunikative Seite der Gewalt zu minimieren. Die ersten beiden Wege haben sie faktisch tatsächlich eingeschränkt, der dritte Weg hat sie verleugnet. Der erste war die Delegitimierung durch Verfahren: Wo politische Gewalt größten Ausmaßes vor Gericht abgehandelt wird - zunächst in den Nürnberger Prozessen, heute in Den Haag und anderswo -, werden die Angeklagten genötigt, sich in ein Verfahren einzubinden. Die Mörder kommunizieren nicht mehr mit einer Öffentlichkeit, sondern mit einem Gericht.

Karl Jaspers hatte noch die Sorge, Eichmann könne den Prozess in Jerusalem dazu benutzen, sich an die Weltöffentlichkeit zu wenden und sich als den zwar nun persönlich gescheiterten, aber irgendwie heroischen Vertreter einer großen Sache zu präsentieren. Genau das hatte Eichmann in einem langen Gespräch, das allerdings viel später erst an die Öffentlichkeit gelangte, getan. In Jerusalem aber versuchte er sich als jemand zu präsentieren, der die Gewalt weder gesucht noch gerne ausgeübt hatte. Er selber arbeitete daran mit, die Gewalt ihres kommunikativen Gehaltes zu entkleiden, sie als bloße Auftragserledigung einzuordnen - und am Ende blieben nur die moralische und juristische Bewertung und das Todesurteil.

Strategie der Verleugnung

Der zweite Weg ist die Karriere der Überlebendenmemoiren. Das ist eine Textgattung, die es in dieser Form vor 1945 nicht gegeben hat und die von Überlebenden des Holocaust und des Gulag verfasst wurde und sich seither fortsetzt: Gefolterte berichten über ihr Leid, aber auch Opfer gewöhnlicher Kriminalität wie Vergewaltigung, Kindsmissbrauch, Geiselhaft etc. Interessant ist, dass dieser Literatur eine besondere Deutungsautorität zugeschrieben wird: Hier hat jemand einen Blick in die Welt getan, der für uns alle von besonderem Belang ist. In dieser Literatur spricht nicht mehr die Gewalt zu uns, sondern der, der sie überlebt hat, spricht zu uns über die Gewalt.

Auf diesen beiden Wegen ist die kommunikative Seite der extremen Gewalt des 20. Jahrhunderts tatsächlich beschränkt worden. In der theoretischen Kommunikation über Gewalt dagegen, in der Gewalt verrätselt wurde, ist deren kommunikative Seite immer wieder verleugnet worden.

Ist nicht diese Strategie der Verleugnung auch eine erfolgreiche Methode gewesen, zu den Standards der Moderne zurückzukehren? Und hat es Sinn oder ist es nicht vielleicht gar leichtfertig, sie hier bloßzustellen? Führt solche Illusionslosigkeit nicht in den Zynismus, der zu dem Schluss kommt, dass wenn die Welt nun mal so sei, man sich den ganzen Gewaltabscheu der Moderne einfach schenken und zurückkehren könne zu dem ja doch erfolgreich praktizierten Vertrauen in die Gewalt?

Kombination von Angst und Selbstbewusstsein

Wir alle neigen dazu, es uns in Illusionen wohl sein zu lassen, aber ich möchte darauf bestehen, dass sie uns nicht guttun. Wir haben gute Gründe, an der Gewaltreaktion der Moderne festzuhalten, aber es hat keinen Sinn, an die Stelle der guten Gründe Autosuggestionen zu setzen, die schon einmal Gewaltexzesse nicht verhindern konnten.

Was an die Stelle der Illusionen treten sollte, ist nicht etwa die Hoffnung auf eine bessere Zukunft - vom Hoffen ist nichts zu hoffen. Vielmehr eine Kombination von Angst und Selbstbewusstsein, und das bedeutet eine Veränderung der Selbst-Imagination. Angst im Sinne Sartres: zu wissen, dass man schon einmal gescheitert ist und dass es ebenso leicht wieder geschehen kann. Selbstbewusstsein: dass die Einschränkungen der Gewalt in Interaktion, durch institutionelle Kontrolle und Beschränkung der Gewaltmittel des staatlichen Monopols der wohl bedeutsamste zivilisatorische Fortschritt der Menschheitsgeschichte gewesen ist.

An ihm müssen wir festhalten, weil wir nicht werden wollen "wie jene dort". Das ist ein besseres Motto als "sei mir armem Sünder gnädig", mit dem man sich gleich den Freibrief ausstellt. Zu dieser Mischung aus Angst und Selbstbewusstsein gehört ein Verständnis der Mechanismen, die eine moderne Gesellschaft im Handumdrehen in den Zustand extremer Barbarei versetzen kann, und eine Sensibilität dafür, was Debatten wie etwa die über eine Re-Legitimierung der Folter anrichten können. Diese Sensibilität können wir nur gewinnen, wenn wir genau wissen, worüber wir reden, wenn wir über Gewalt sprechen.

Jan Philipp Reemtsma lehrt Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg und ist Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung. An diesem Institut hielt er am gestrigen Donnerstag den Vortrag, den wir hier - gekürzt - abdrucken und mit dem das Institut eine Vorlesungsreihe zum Thema "Gewalt und Moderne" einleitet. Im Februar erscheint Reemtsmas Buch "Vertrauen und Gewalt" (Hamburger Edition).

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SZ vom 25.1.2008/kur
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