Süddeutsche Zeitung

Theorie:Anerkennung

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Wie einmal beide Seiten recht bekamen: Das neue Gesetz berücksichtigt die Positionen von Anhängern der Gendertheorie und von Biologisten. Demzufolge gibt es sowohl kulturell konstruierte als auch biologische Geschlechter.

Von Felix Stephan

Die zeitgenössische Geschlechterdebatte, die jetzt mit der gesetzlichen Anerkennung der Intersexualität zu einer vorläufigen Auflösung gefunden hat, teilt sich im Wesentlichen in zwei Lager: das der Kulturalisten und das der Biologisten.

Die Kulturalisten nehmen an, dass es sich bei der binären Geschlechterordnung, die nur Männer oder Frauen kennt, um eine kulturelle Übereinkunft handelt, eine soziale Konstruktion. Der Gedanke wurde im Jahr 1990 in dem Buch "Das Unbehagen der Geschlechter" von der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Judith Butler ausformuliert. Darin führte sie den Feminismus Simone de Beauvoirs und die Linguistik John Searles zu dem sicherlich einflussreichsten geisteswissenschaftlichen Text der letzten Jahrzehnte zusammen.

Das zentrale Argument lautet: Eine Frau wird erst dadurch zur Frau, dass man ihr bestimmte weibliche Eigenschaften unterstellt und sich ihr gegenüber entsprechend verhält. Durch diese Ansprache werde das Bild der Frau allerdings überhaupt erst hergestellt, die jeweils Angesprochene in eine bestimmte Rolle gedrängt. Wenn man also zum Beispiel Jungs zu Weihnachten Werkzeug schenkt und Mädchen Lippenstifte, beschenkt man sie nicht geschlechtergerecht, sondern weist ihnen die jeweilige Rolle überhaupt erst zu. Und weil diese Rolle kein Naturgesetz, sondern eine gesellschaftliche Übereinkunft ist, lässt sie sich im Zweifel auch wieder rückgängig machen.

Die Biologisten hingegen erkennen nur Geschlechter an, die sich auch medizinisch nachweisen lassen. Sie verweisen auf Hormone, Chromosomen und sichtbare Geschlechtsorgane und sehen insgesamt wenig Interpretationsspielraum.

In diese Debatte hinein hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor etwas über einem Jahr ein intelligentes, salomonisches Urteil gefällt. Es gab teilweise den Kulturalisten recht, weil es anerkannte, dass die binäre Geschlechterordnung eine soziale Konstruktion ist, die sich nicht zuletzt im deutschen Personenstandsrecht niederschlägt. Teilweise stimmte es aber auch den Biologisten zu, weil es die Bundesregierung aufforderte, alle Geschlechter anzuerkennen, die sich medizinisch nachweisen lassen. Und das sind nun einmal mehr als zwei. Für das Bundesverfassungsgericht stellt es einen unzulässigen Eingriff in die persönliche Entwicklung dar, dass Menschen, die mit einem uneindeutigen Geschlecht zur Welt kommen, keine Möglichkeit haben, einen nicht ganz unerheblichen Teil ihrer Identität offiziell registrieren zu lassen. Das Grundgesetz, erklärte das Gericht, gebiete nicht, "den Personenstand hinsichtlich des Geschlechts ausschließlich binär zu regeln".

Das neue Gesetz wird nur eine relativ überschaubare Anzahl von Menschen unmittelbar betreffen. Schätzungen zufolge leben in Deutschland 10 000 bis 150 000 Intersexuelle, genaue Zahlen gibt es nicht. Diskursiv aber ist es von einiger Bedeutung. Es ist nun gesetzlich verankert, dass die binäre Geschlechterordnung eine Fiktion ist.

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Quelle:
SZ vom 21.12.2018
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