Theodor Buhl: Winnetou August:Unter Blutsbrüdern

Lesezeit: 3 min

Theodor Buhls Roman "Winnetou August" erzählt von einer doppelten Flucht - aus der Heimat und aus der Realität. Nur dank Karl May ist der achtjährige Rudi in der Lage, Angst, Flucht und Ekel zu ertragen.

Simon Strauss

Jetzt war man vertrieben - jetzt konnte man das Land nicht mehr berühren mit den Füßen - jetzt fühlte man es nur noch durch die Eisenräder und die Schienen - jetzt war man unterwegs." Im Sommer 1946, abermals in einen dunklen, stinkenden Waggon gepresst und umgeben von keuchenden, mutlosen Gestalten, hat Rudi restlos die Schnauze voll von Karl May. Bis hierhin war ihm Winnetou in vielen düsteren Stunden stets Freund und Beschützer gewesen.

Die Geschichten über Winnetou und Old Shatterhand werden für den achtjährigen Rudi auf der Flucht zum Überlebenselexier. Sie helfen ihm, seine abstoßende Wirklichkeit in einen phantastisch-fernen wilden Westen zu übertragen. (Foto: DPA/DPAWEB)

Rudi ist acht, als der Krieg verloren geht. Vater August, vom Franzosen einarmig geschossen, schimpft auf das "Arschloch Adolf" und arbeitet als Irrenwärter in der Heilanstalt. Mutter Elfriede war früher Sekretärin bei der ärztlichen Verrechnungsstelle. Der ältere Bruder Willy zwingt zum "routinemäßigen Gliedmessen" und sorgt dafür, dass Rudi abgehärtet wird. Als die ersten Russen nachts aus dem Wald kommen, ist Familie Rachfahl die letzte, die der schlesischen Heimat den Rücken kehrt. Zunächst haben die vier Glück, sie finden Zuflucht bei den Großeltern.

Die Brüder können aus dem warmen Wohnzimmer durchs Fenster die Trecks zählen, die langsam durch den Schnee ziehen. Was anfangs nach heimeliger Planwagen-Stimmung klingt, wandelt sich abrupt zu einem erschütternden Schreckensbild: "Die Frauen unten auf der Straße legten manchmal vorsichtig was in den Schnee, blieben eine Weile stehen, guckten sich das an und gingen weiter. Bis zu uns rauf konnte man erkennen, dass sie Rotz und Wasser heulten. Tote Kinder waren das!"

Aus der Perspektive von Rudi, in seinen Worten, werden Horror und Leid der Flucht kühl und direkt wiedergegeben. Eine zu erwartende Betroffenheitsgeste bleibt aus. Die Wahl der Perspektive gibt dem Autor das Recht dazu. Aus dem Mund des Jungen klingt die unverfrorene Beschreibung einer Vergewaltigung oder eines verstümmelten Körpers seltsam fremd, manchmal fast zynisch. Die naive Beschreibung des Kindes verleiht der Erzählung eine Aura der Unmittelbarkeit, die schockiert und angreift.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum man bei diesem Roman die Lesehaltung am liebsten aufgeben würde.

Theodor Buhls Erstlingswerk "Winnetou August" ist ein autobiographischer Roman. Der 1936 geborene Autor hat wie sein Held die Grausamkeit der Flucht und die Abstumpfung der kindlichen Seele selbst erlebt. Ohne falsche Parteinahme führt Buhl dem Leser vor Augen, dass Vertreibung immer von unermesslichem menschlichen Leid und moralischer Verkommenheit begleitet wird. Seine Sprache ist protokollhaft knapp, oft verkürzt ("Nasenschleim läuft, Pisse rinnt"). Andererseits zeugen die melancholischen Rückblicke auf Heimatstädte und Landschaften von dem poetischen Sprachgefühl eines Autors, der seine Kindheitserlebnisse eindrucksvoll literarisiert hat.

Die May'schen Bilderwelten

Schon in den 1980er Jahren entstand eine erste Fassung von "Winnetou August", die der als Lehrer tätige Buhl seitdem immer wieder überarbeitet hat. Nie geht es um Schuldzuweisungen in dieser Familiengeschichte. Wenn der Vater Angst davor hat, dass die Russen "es bei uns genauso machen wie unsere bei ihnen drüben", wendet er sich ausdrücklich gegen eine Verharmlosung der deutschen Verbrechen an der Zivilbevölkerung.

Der Autor berichtet von humanitären Tiefpunkten: Ein achtjähriges Mädchen wird vor den Augen ihrer Mutter von russischen Soldaten missbraucht, während Rudi mit Urin und Exkrementen bedeckt wird. In ihrer Unmittelbarkeit sind diese Lektüreaugenblicke ebenso aufwühlend wie verstörend. Man möchte aus der Leserhaltung heraus und in die Beschützerrolle hineinspringen.

Die Flucht führt die Familie nach Dresden, sie überlebt die Bomben in einem überfüllten Keller, es riecht nach Fäkalien und verwestem Menschenfleisch -hier träumt niemand mehr vom Endsieg. Ein Mädchen, nackt und verbrannt, beflügelt die erotische Phantasie des pubertären Bruders Willy. Perversion und Abgebrühtheit gehen Hand in Hand. Als der Schwager von einem "Brei aus Blut und Knochen" berichtet, den man in einem zerbombten Bunker vorgefunden habe, versucht die Mutter müde, ihren Sohn vor solch grausamen Eindrücken zu schützen: "Friedrich, hör doch auf! Denk an das Kind". Der Erzähler wendet sich fast schon augenzwinkernd an seine Leser: "Das sollte ich sein". Seine Kindheit hat er da schon längst vergessen und abgelegt, Angst, Flucht und Ekel waren ihm die neuen Spielgefährten.

Und dann ist da noch Karl May. Die Lektüre der Geschichten um Winnetou und Old Shatterhand wird Rudi - nachdem er den ersten grünen Band in einem verstaubten Regal entdeckt hat - zum Lebenselixier. Bald schon überträgt er seine abstoßende Wirklichkeit mit Hilfe der May'schen Bilderwelten in einen phantastisch-fernen wilden Westen. Die Romane bieten ihm Distanz von der Brutalität und der Verlorenheit eines Daseins, das "langsam vor sich hin gärt". Erst als er auf der Eisenbahnfahrt in den Westen einem Ende der grauenvollen Odyssee entgegensieht, wagt er, seinen literarischen Schutzschild abzulegen: "Wahrscheinlich hatte es den nie gegeben, diesen Winnetou."

THEODOR BUHL: Winnetou August. Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2010. 315 Seiten, 19,95 Euro.

© SZ vom 16.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: