Theaterstück "Mutti" von Juli Zeh:Ein Schlüsselloch-Dramolett

Ruhrfestspiele - 'Mutti'

Eine Szene aus dem Stück "Mutti" von Juli Zeh und Charlotte Roos mit Sebastian Kowski als Horst, Anna Windmüller als Ulla, Michael Wächter als Sigmar und Nadja Robiné als Angela.

(Foto: dpa)

Sie forderte von der Kanzlerin gegen die Massenüberwachung der NSA vorzugehen und schrieb einen offenen Brief. Jetzt hat die Schriftstellerin Juli Zeh ein neues Ventil für ihre politische Wut auf Angela Merkel gefunden: eine Komödie. Aber "Mutti" wird wohl nicht das erreichen, was Zeh sich davon erhofft haben dürfte.

Von Vasco Boenisch

Die Regierungsgeschäfte unserer politischen Führer in Berlin mögen zuweilen undurchsichtig erscheinen. Manchmal mag man sich nicht einmal sicher sein, dass da überhaupt noch jemand regiert und nicht nur Geschäftigkeit simuliert. Darüber kann man dann sehr zornig werden. Oder fatalistisch. Oder spöttisch.

Die Schriftstellerin Juli Zeh ist nicht für fatalistisches Achselzucken bekannt. Vor knapp einem Jahr forderte sie von der Kanzlerin, gegen die Massenüberwachung von NSA & Co vorzugehen. Mehr als 67 000 Unterstützer folgten ihrem Aufruf. Doch eine zufriedenstellende Antwort, eine Strategie, hat Zeh bis heute nicht vernommen. Also legte sie vergangene Woche nach mit einem Offenen Brief, Tenor: Warum schweigen Sie, Frau Merkel?

Gruppentherapie für GroKo-Großkopferte

Jetzt hat Zeh für Ihre politische Wut ein weiteres Ventil gewählt: die Komödie. Zusammen mit der Co-Autorin Charlotte Roos, mit der sie zum zweiten Mal ein Theaterstück verfasst, macht sie sich aus dem politischen Stillstand einen literarischen Spaß und schickt in "Mutti" die GroKo-Großkopferten zur Gruppentherapie. Europa steht am Abgrund, und noch schlimmer: auch das schwarz-rote Regierungsbündnis. Denn Mutti Angela antwortet nicht. Nicht auf die wichtigen Fragen der Zeit, wie Sigmar (Gabriel) findet, der hier zum Zeh-Stellvertreter wird. Eine große Europa-Rede muss her ("Und zwar eine historische! Mit Pathos, Kurskorrektur und allem drum und dran!"), sonst platzt die Koalition. Basta.

Also Angela (Merkel), Sigmar, Horst (Seehofer) und Ulla (von der Leyen) zur Familienaufstellung, bitte. Auf Anweisung des Coaches Hellmann gruppieren sich die vier Politprofis zu interpretationsfreudigen Konstellationen im Raum. Angela erträgt's stoisch und mit Sottisen gegen ihre Konkurrenten: "Sigmar hat manchmal Schwierigkeiten, die Realität zu sehen. Er ist Sozialdemokrat." Wichtig ist ihr nur ihr Handy. Live-Stream vom WM-Finale Deutschland gegen Spanien. Ihr Kalkül: Bei einem Sieg kann sie den freudetrunkenen Deutschen ein weiteres 150-Milliarden-Rettungspaket für Griechenland unterjubeln.

In die Theatergeschichtsbücher wird "Mutti" nicht eingehen

Doch dann fällt Jogis Truppe zurück; in Rio wollen Demonstranten das Stadion stürmen; und in Katar auf der WM-Baustelle wird ein Arbeiteraufstand blutig niedergeschossen. Horst telefoniert panisch mit seinen Firmen-Amigos in Katar; Angela diktiert Jogi die Spieleraufstellung; Ulla bereitet per Smartphone die Evakuierung des WM-Stadions vor; Sigmar schart die Presse um sich, um den Spielabbruch als symbolischen Wendepunkt deutscher Welt-, Wirtschafts- und Europapolitik zu verkünden - und merkt nicht, wie ihn Angela ruhig auf- und ins Messer laufen lässt.

Nun, in die Theatergeschichtsbücher wird "Mutti" wohl nicht eingehen. Was Juli Zeh und Charlotte Roos da mit spitzer Feder konstruiert haben, ist weder Königinnen- noch Schlüsseldrama, eher ein Schlüsselloch-Dramolett. Aber immerhin. Zwischen den bekannten Verhaltensmustern gibt es immer wieder fein beobachtete Pointen, die Spaß machen. Und zwischen dem amoralischen Zank und Zeter im Hinterzimmer der Macht offenbart sich die Systemkritik. Wenn Zeh und Roos etwa die Kanzlerin en passant über ihr Volk sagen lassen: "Die Leute wollen in Ruhe gelassen werden", dann ist das bei aller parodistischen Beiläufigkeit schon auch böse. Und vielleicht sogar tragisch. Denn am Ende hat sie damit Recht.

Mal mehr, mal weniger glücklich

Die Uraufführung des Deutschen Nationaltheaters Weimar bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen ausgerechnet am Vorabend der Europawahl hätte da sogar noch einen ganz besonderen Unterton kriegen können. Doch die Regie des neuen Weimarer Intendanten Hasko Weber fegt in aller Erwartbarkeit über die Politsatire. Von Dreiknopfblazer bis Ost-Akzent gibt Nadja Robiné das kabarettistische Angela-Double mit hängenden Mundwinkeln, und auch ihre Kollegen eilen ihren realen Vorbildern hinterher, mal mehr, mal weniger glücklich.

Dass Ausstatterin Anette Hachmann die Szene immerhin nicht im Konferenzsaal ansiedelt, sondern in einer Art uckermärkischem Tanzlokal mit Transistorradio, ist so ziemlich das Höchstmaß an Überhöhung - oder Unterhöhlung des Offensichtlichen. Den schönen Running Gag, dass die Umfragewerte permanent im Hintergrund aktualisiert werden (bei "Mutti ist die Beste" rauf, bei "soziale Investition" runter), spart man auf eine kurze Szene mit Publikumsapplaus ein.

Angela Merkels perfider Aktionsminimalismus, mit dem sie manche Krise aussitzt, abwartend, bis alle um sie wie aufgeregte Motten im Licht verbrennen, führt das Stück mit unterschwelliger Schärfe zum Showdown, politische Leichen inklusive. In Recklinghausen bleibt Mutti Angela dagegen eine drollige Matrone, selbst wenn sie schließlich im Abendkleid den WM-Sieg abnickt. Wer, außer Juli Zeh, wollte wütend auf sie sein?

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