Süddeutsche Zeitung

Theaterspektakel:Dann kam der Mensch

Kolonialismus am Beispiel einer kleinen Insel: Die beeindruckende australische Produktion "We all know what's happening" in Zürich.

Von Egbert Tholl

Was ist das? Sieben Jugendliche stehen auf der Bühne in der Roten Fabrik, tragen Samt-Wams oder sehen aus wie Burgfräuleins und spielen mit strahlender Euphorie Musical, die Musik kommt als Playback vom Band, eine klebrige Schmonzette, die davon handelt, dass Leonardo da Vinci sich in Mona Lisa verliebt hat. Während man noch gut gelaunt darüber grübelt, in welche Art von Schulaufführung man da wohl hineingeraten sei, verschwinden die Jugendlichen, kehren zivil gekleidet zurück und beginnen, mittels Pappkulissen und in zauberhafter Ernsthaftigkeit die Geschichte der Insel Nauru zu erzählen.

1980 brannte Zürich. Der Zürcher Stadtrat beschloss die aufwändige Renovierung des Opernhauses, aber für Jugendkultur sollte kein Geld verwendet werden. Daraufhin kam es zu Jugendprotesten, die in ihrer Heftigkeit die Öffentlichkeit und die Behörden völlig verblüfften; in der Folge wurde die Rote Fabrik gegründet, bis heute ein blühendes, linksalternatives Kulturzentrum. Und im Sommer desselben Jahres gab es zum ersten Mal das Zürcher Theaterspektakel, heute das größte Theaterfestival der Schweiz, Ort der freien Szene, des internationalen Austauschs. In diesem Jahr fand es zum 40. Mal statt, zum zweiten Mal unter der künstlerischen Leitung von Matthias von Hartz.

"We All Know What's Happening", die Produktion, in der die Jugendlichen auf der Bühne stehen, ist eine der Lieblingsaufführungen von Matthias von Hartz. Das sagte er vorher, hinterher geben ihm die Zuschauer und die ausschließlich aus Theatermacherinnen bestehende Jury des Förder-Wettbewerbs Recht: Das Gastspiel aus Australien, zum ersten Mal in Europa zu sehen, erhält den Publikums- wie den Preis der Jury, zusammen 40 000 Franken, gesponsert von einem örtlichen Geldinstitut. Im zeitgenössischen Theater können Zuschauerentzücken und Profimeinung zusammenfallen.

Die australischen Theatermacherinnen Samara Hersch und Lara Thoms luden in Melbourne Jugendliche ein zu Workshops über Geschichte und Menschenrechte, mit denen, die bis zuletzt blieben, beschlossen sie, Theater zu machen, auch politisch aktiv zu werden. Als Blitzableiter der angestauten Entrüstung ob der gewonnenen Erkenntnisse. Nauru, östlich von Papua-Neuguinea gelegen, war einst ein Paradies, Vögel nutzen das Inselchen, um auf die Toilette zu gehen, wie die Kinder in der Aufführung lustig vorführen.

Dann kam der Mensch. Die zwölf Clans, die als erste die Insel besiedelten, lebten vom Fischfang und vom Ertrag der Insel. Dann kamen im 19. Jahrhundert Walfänger, tauschten Waffen gegen Essen und Wasser, der Friede zwischen den Clans fing an zu bröckeln. Schließlich wurde auf der Insel Phosphor entdeckt, entstanden aus der Hinterlassenschaft der Vögel. Deutsche Kolonialherren begannen den Abbau, es folgten Australier, Briten und Neuseeländer, Japan okkupierte die Insel im Zweiten Weltkrieg, der Raubbau ging munter weiter, die Bevölkerung hatte nichts davon bis zur Unabhängigkeit.

Das Theaterspektakel spielt in der Champions League der europäischen Theaterfestival

Von 1970 an bauen die Ureinwohner den Phosphor selber ab, werden bizarr reich, kaufen sich nutzloses Zeug, mit dem die Kinder auf der Bühne spielen, lassen sich zu allerlei Unsinn überreden, investieren sieben Millionen Dollar in das komplett scheiternde "Leonardo"-Musical in London. Bis dahin hat die Aufführung noch die Anmutung eines verspielten Kindergeburtstags. Dann schicken die Jugendlichen die Zuschauer unter 13 Jahren in einen Nebenraum und erzählen die zeitgenössische Tragödie der Insel. Offenbar gegen jedes Völkerrecht macht Australien die Insel zum Internierungslager für Flüchtlinge, die man nicht auf dem Festland haben will, es kommt zu massiven sexuellen Übergriffen des Sicherheitspersonals, die Einheimischen wie die Internierten werden dumm und rechtlos gehalten, die Kinder auf der Bühne werden zu Stellvertretern gleichaltriger Gefangener, stellen einen Wald von Mikrofonen auf für all die Stimmen derer, die sie nicht zu Wort kommen lassen können. Wie die Jugendlichen aus Darstellern der Sorglosigkeit zu Darstellern des allergrößten Zynismus werden, löst eine Beklemmung aus, für die einem wenige Vorbilder einfallen. In ihrem politischen Gehalt verbunden mit subtiler, theatraler Wucht kann man die australische Produktion als paradigmatisch für das Wollen von Matthias von Hartz sehen. "Wenn man so viel Geld für ein Festival kriegt, muss es die Welt reflektieren und kann nicht nur Kunst sein."

Der Mann hat Erfahrung mit Festivals, hat diverse davon geleitet, zuletzt das "Athens & Epidaurus Festival" in Griechenland. Das Theaterspektakel, das er 2018 übernahm, spielt in der Champions League der europäischen Theaterfestivals, nimmt sensationelle 800 000 Franken von seinem Fünf-Millionen-Budget selbst an der Kasse ein, hat eine Auslastung von aktuell 87 Prozent und zeigte in diesem Jahr rund 30 Produktionen, davon traditionell etwa zwei Drittel von hierzulande völlig unbekannten Künstlern. Gut, dieses Jahr war Jubiläum, deshalb war auch ein Großkünstler wie William Kentridge zu Gast, der in seiner umwerfenden performativen Lesung von Schwitters' "Ursonate" einen fabelhaften Zorn auf Krieg, Militarismus und die Gefährdung jedweder Zivilisation entfachte. Am letzten Wochenende des Festivals konnte man erleben: Die Vollendung der zweiwöchigen Workshop-Reihe des Choreografen Boris Charmatz; den pathetischen Liebesschmerz des libanesischen Choreografen Ali Chahrour zwischen musikalischer Modernität und archaischem Schwulst; Jan Lauwers Gastspiel "All the Good", kurz davor bei der Ruhrtriennale herausgekommen und das seifige Klagelied eines alten, weißen Künstlers angesichts der drohenden Bedeutungslosigkeit seines Tuns; die betörende Schönheit von Anna Teresa de Keersmaekers Choreographie "Violin Phase", ein Jahr nach Gründung des Festivals entstanden.

Yuika Hashimoto tanzt das Stück auf einem Quadrat aus weißem Sand auf der Wiese, wie überhaupt das gesamte Theaterspektakel auch ein Volksfest für alle ist, für Straßenartisten, Gaukler und Zauberer, dazwischen gibt es die Aufführungen, politische Vorträge, Diskurs. Das hinreißende Areal am Züri-See ist eine temporäre Theaterstadt, von der nach Ende des Spektakels nichts bleibt außer Erinnerungen.

Von Hartz und sein Team haben lange überlegt, ob sie die australische Produktion einladen sollen, schließlich ist die Reise ökologischer Wahnsinn. Sie taten es schließlich, weil sie mussten und andere europäische Festivals überzeugen konnten, "We All Know What's Happening" auch zu zeigen. Koproduktion und Vernetzung sind in diesem Metier wichtiger als das Alleinstellungsmerkmal eines Festivals.

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Quelle:
SZ vom 03.09.2019
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