Theaterreport:Hitler und die Nackten
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Was macht ihr eigentlich für ein Theater? Junge ukrainische Bühnenkünstler tauschen sich mit deutschen Kollegen aus. Eine Annäherung in Leipzig.
Von Tim Neshitov
Das Kiewer staatliche Puppentheater im Kreschaty-Park sieht aus, als habe es Ludwig II. ersonnen. Es ist märchenhaft. Gebaut erst 2005, mit süßen Türmchen, auf einem Hügel, ausgesprochen kindergerecht. Der Direktor des Theaters, Nikolaj Petrenko, hat eine angenehme Stimme. Er ist die Stimme der Kiewer U-Bahn: Achtung, die Türen schließen sich, verehrte Fahrgäste, gehen Sie respektvoll miteinander um . . . Gegen Petrenko wird gerade wegen Veruntreuung des Theaterhaushalts ermittelt, berichten ukrainische Medien.
Vor drei Jahren entließ Petrenko eine Handvoll Schauspieler, darunter Alexander Martinenko. Einfach so, ohne Begründung, und Martinenko meint, es war wohl "ein bisschen von allem": Der Chef trinke exzessiv und fälle oft cholerische Entscheidungen. Auf diese konkreten Schauspieler sei er schon länger sauer gewesen, weil sie vor ihren Aufführungen proben wollten, wenn's sein muss auch abends, und der Chef habe es nicht so gerne, wenn Räume des schmucken Theaters durch Proben belegt seien, denn dem Haus bringe es rein finanziell viel mehr, sie für Firmenfeiern zu vermieten oder für Junggesellenabschiede. Zudem sei Petrenko einfach neidisch gewesen, weil seine Schauspieler einen namhaften Preis gewonnen hatten, den er selbst nie gewinnen konnte, die Kiewer Pektoral. Das Gewinnerstück handelte von einem Huhn, das goldene Eier legt.
Für diesen Artikel war Nikolaj Petrenko nicht erreichbar, aber er lässt ausrichten, die Anschuldigungen stimmten nicht und er bleibe im Amt.
"Wart ihr schon mal in der Ukraine?" - "Nein. Nur in Moskau." - Ups . . .
Alexander Martinenko, der gefeuerte Schauspieler, wohnt gerade in Leipzig. Er ist Stipendiat der European Theatre Convention. Das ist eine Vereinigung öffentlich finanzierter Theater aus zwanzig Ländern. Zehn Theatermacher aus der Ukraine hospitieren in diesem Herbst für jeweils sechs Wochen an Häusern in Deutschland, Belgien, Österreich und auch in Georgien, das zwar nicht zu Kerneuropa gehört, aber eine lebendige Theaterszene hat.
Alexander Martinenko ist 25 Jahre alt und liebt Puppentheater. Am Schauspiel Leipzig bekommt er klassisches Schauspiel zu sehen. Stücke ohne Puppen, aber alles auf einem Niveau, das "durch die Decke geht", wie er sagt. Er kann ein wenig Deutsch. In Kiew lebt er als freier Künstler und tritt nur noch auf unabhängigen Bühnen auf ("Nie wieder Staatstheater!"), die nicht die Möglichkeiten eines deutschen Stadttheaters haben. Aber auch sein ehemaliger Arbeitgeber, das städtische Puppentheater in Kiew, kann in Sachen Bühnenbild und -technik mit dem Schauspiel Leipzig nicht mithalten. Festangestellte Schauspieler in Kiew verdienen umgerechnet 150 bis 200 Euro im Monat, und davon kann man auch in Kiew nicht leben. Aber das ist ein eher erwartbarer Unterschied.
Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass haben jedenfalls dafür gesorgt, dass die Theaterlandschaft der Ukraine noch für eine Weile unter wohlwollender kollegialer Beobachtung stehen wird. Müsste man diesen Aufmerksamkeitsschwenk im Westen szenisch darstellen, würden sich ein Dutzend Besorgte auf der Bühne synchron die Hand an die Augenbrauen legen und den Oberkörper Richtung Osten drehen. Die Frage: Was machen die da eigentlich für ein Theater?
Die Stipendiaten der European Theatre Convention kamen kürzlich in Leipzig zusammen. Sie sahen sich das Stück "Das Tierreich" von dem Autorenduo Nolte Decar an, was ohne Sprachkenntnisse zu einer etwas eingeschränkten Wahrnehmung geführt haben mag. (Reaktionen: "Brillante Choreografie!" - "Taucht in jedem deutschen Stück Hitler auf?") Danach ging es in die kleine Theaterkantine. Bierchen mit den deutschen Kollegen. Die wenigsten Ukrainer bestellten sich allerdings tatsächlich ein Bier - es kostet 2,80 Euro.
"Geht ihr denn alle in eure Heimat zurück?" Gegenfrage an die Deutschen: "Wart ihr schon mal in der Ukraine?" - "Nein. Nur in Moskau."
Ups, falsches Land. Schweigen auf Englisch. Ein Ensemblemitglied des Leipziger Schauspiels bestellt eine Runde Wodka. Viele kalte Zwergeimerchen aus Plastik. "Nasdrowje", sagen die Leipziger. "No, no", sagen die Ukrainer. "Budmo!" So prostet man sich in der Ukraine zu.
In der Schauspielkantine stellt man gegen Mitternacht fest: Die ukrainischen Kollegen kennen das europäische Gegenwartsdrama ziemlich gut. Andrej Palatnij zum Beispiel, ein schlanker, Alain-Delon-hafter Schauspieler und Projektleiter am freien Theater "Dach" in Kiew, hat bereits mitgewirkt in: "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" von Lukas Bärfuß, "Der Hässliche" von Marius von Mayenburg, "Protection" von Anja Hilling. Und, fragen die ukrainischen Kollegen, ihr so in Deutschland, wer spielt welche ukrainischen Dramatiker hier?
Hm . . . Macht nichts, sagen die ukrainischen Kollegen, auch bei uns spielen nur ein paar freie Theater unsere eigenen Autoren. Natalja Woroschbit, Anatolij Krim, Oksana Tanjuk, Pavlo Arie - in kürzlich verlegten Anthologien werden vier Dutzend ukrainische Gegenwartsdramatiker vorgestellt, aber sie werden eben nur vorgestellt. Große Häuser zeigen weiterhin wenig Interesse an ihnen. Natalja Woroschbits "Getreidespeicher", ein Stück über die von Stalin veranlasste Hungerkatastrophe in der Ukraine, wurde am Royal Shakespeare Theatre in London uraufgeführt und erst fünf Jahre später in der Ukraine gezeigt, auf einem Festival in Lemberg. Die Engländer sind insgesamt auffällig offen gegenüber dem ukrainischen Theater, im Gegensatz zu den Kollegen auf dem Kontinent.
Große Häuser in der Ukrainer sind klassikfixiert, auch das hielt man in der Kantine fest. Shakespeare und Tschechow bringen zuverlässig Geld und verlangen keine Tantiemen. Alles andere ist Abenteuer. Zur Sowjetzeit waren für das Abenteuer fünf bis sieben Talentscouts im Kulturministerium zuständig, die hauptberuflich nach neuen Autoren und Stoffen suchten. Heute meidet man Abenteuer. Vor allem, wenn es um politische Stoffe geht.
Über den Maidan-Aufstand hat es sieben Inszenierungen gegeben, nur eine davon an einem Staatstheater. Die Vorstellung allerdings, dass Theater überhaupt politisch sein soll, ist unter den ukrainischen Theaterleuten umstritten. Die Schauspielerin und Tänzerin Olga Popowa, die in Graz hospitiert, sagt mit leiser Stimme: "Mich persönlich rührt Politik nicht, und um kreativ zu sein, muss ich gerührt sein." Der im Auslandsdrama versierte Andrej Palatnij hingegen wünscht sich in Kiew eine Bühne, die sich ausschließlich dem politischen Theater widmet.
Politisch heißt vor allem dokumentarisch. Flüchtlinge aus dem Donbass erzählen über ihre Flucht, Soldaten erzählen vom Tod und von der Kälte. Entweder tun sie es selbst - Stichwort "Bürgerbühne" - oder Schauspieler erzählen nach. Eine wichtige Quelle ist Facebook, die endlose Chronik der Gegenwart. Aus Facebook-Beiträgen zusammengesetzte Stücke werden abgefilmt und zurück ins Internet eingespeist, auf dass ein digitaler Kreislauf entsteht. Ein Stück heißt "Das Interview eines Militärpsychologen" ("Als mir Filzstiefel in dieser Kälte geschenkt wurden, wusste ich, dass ich der glücklichste Mensch auf Erden bin"). Der Regisseur dieses Stücks darf nicht mehr nach Russland einreisen.
Beziehungen zwischen den ukrainischen und den russischen Theatermachern gehen gerade in die Brüche. Nicht so stark wie etwa in der Zunft der Historiker, aber spürbar. Als jemand erwähnt, dass es nun keine Direktflüge mehr zwischen der Ukraine und Russland geben soll, sagt ein Stipendiat: Gott sei Dank.
Gewissenhaftes Dokumentieren führt aber zu der Frage: Wo hört politisches Theater auf, und wo beginnt eine Talkshow? Eine gute Frage von Julia Gonchar, 25, Hospitantin am Staatstheater Karlsruhe. Es gibt darauf keine Antwort, weder in der Kantine noch beim wilden Tanzen in einem Leipziger Hinterhof weit nach Mitternacht. Ostdeutscher Charme, diese schicken Ruinen, in denen drei Leute eine Box aufstellen und durch begleitenden Bierverkauf sich einen Club zusammendenken. "Ich will dafür sorgen, dass man mit Theatermachen auch in der Ukraine Geld verdienen kann", sagt Julia. Sie hat einen Master in International Business und Management.
Geld und Kunst: Ein Punkt im Leipziger Programm der Stipendiaten ist ein Besuch bei dem deutsch-spanischen Künstlerduo Notfoundyet (Laia Fabre und Thomas Kasebacher). Das Duo hat Geld angeworben beim österreichischen Kulturministerium, bei der Stadt Wien und beim Schauspiel Leipzig, um in einer fußballfeldgroßen Halle der ehemaligen Baumwollspinnerei sich darüber Gedanken zu machen, wie man Roberto Bolaños Roman "2666" inszenieren könnte. Sie haben zum Beispiel Gerüche entwickeln lassen, um die Besucher in Bolaños Welt zu entführen: Wüste (viel Muskat), Gewalt (verbranntes Holz), Schweinekot (ebendieser plus geräucherter Speck). Die Künstler arbeiten auf Macbooks und wirken sehr entspannt.
Andrej Palatnij tanzt in der Ruinendisco. Er macht Theater auch ohne Geld. ",Hamlet musst du so spielen, als würdest du etwas ganz Alltägliches machen, als würdest du jemanden fragen: Wo kann ich hier eine Waschmaschine kaufen", sagt er, "dann haut's rein."
Nach dem "Sommernachtstraum" überlegt sich Alexander Martinenko, der Puppenspieler, was ihm gefallen hat. Das aufwendige Bühnenbild, sagte er, die filigrane Schauspielkunst. Aber auf der anderen Seite: "Muss man den ,Sommernachtstraum' unbedingt als einen glitschigen, vierstündigen Albtraum inszenieren? Und muss man so viel siski-piski ("Titten-Schwänze") zeigen? In der Ukraine sind wir durch mit Depressionstheater und mit siski-piski."