Theaterprozess gegen "Weltwoche":Vorverurteilt

"Tyrannei der Mehrheit" und "geistige Brandstiftung": Milo Rau inszeniert in Zürich einen Theaterprozess gegen die Zeitung "Die Weltwoche" - und löst damit eine nationale Debatte aus.

Von Tim Neshitov

Der Prozess war fiktiv, und doch bewegte er die Schweiz so breitflächig, dass das Fernsehen die Verhandlungen mit ganzen zwei Sondersendungen begleitete. Auf der Anklagebank saß in Zürich die Redaktion der Wochenzeitung Die Weltwoche.

Internationale Bekanntheit erlangte das Blatt im vergangenen April mit einem Titelbild zu einer Geschichte über Roma: Ein ungewaschenes Kleinkind hielt da eine Pistole in die Kamera, darunter der Titel: "Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz". Später stellte sich heraus, dass das Foto auf einer Mülldeponie in Kosovo aufgenommen wurde. Das vierjährige Kind spielt da mit einer Plastikpistole, dem einzigen Spielzeug, das es finden konnte.

Der Verleger und Chefredakteur der Weltwoche heißt Roger Köppel. Zwischen 2004 und 2006 versuchte er sich als Chefredakteur der deutschen Zeitung Die Welt. Unter Köppel hat die Weltwoche neben Roma ausgiebig über ausländische Sozialhilfebetrüger berichtet und über Gefahren, die ihrer Ansicht nach von Minaretten und Kopftüchern ausgehen. Nun wurde die Redaktion der Rassendiskriminierung, der Schreckung der Bevölkerung und der Gefährdung des verfassungsmäßigen Ordnung angeklagt.

Der Prozess war allerdings fiktiv. Das Schweizer Strafgesetzbuch sieht zwar all die oben genannten Straftatbestände vor, kann aber auf Medien kaum angewandt werden, da die Schranken der Meinungsfreiheit zu hoch sind. Die Zahl der Schweizer, die die Weltwoche für gefährlich halten, ist jedoch ebenfalls hoch. So kam der Schweizer Regisseur Milo Rau auf die Idee, die Zeitung im Rahmen eines Theaterprojekts anzuklagen.

Zuletzt inszenierte Rau in Russland die "Moskauer Prozesse", da konnten sich Künstler, die ähnlich wie die Gruppe Pussy Riot einst wegen Blasphemie verurteilt wurden, in nachgespielten Verfahren nochmals der Justiz stellen. Im Theatersaal wurden sie freigesprochen. Dieses therapeutische Kunstgenre, das Milo Rau hervorragend beherrscht, heißt Reenactment. "Die Zürcher Prozesse" am Theater Neumarkt im beschaulichen Niederdörfli waren kein juristisches Reenactment, denn die Weltwoche ist bisher nie vor Gericht belangt worden. Aber die Prozesse waren ein Reenactment all der gelebten und geschürten Ängste und Vorurteile, die in der Schweiz am Werke sind.

Valentin Landmann, ein bekannter Zürcher Anwalt, der die Verteidigung der Weltwoche übernahm, amüsierte das Publikum mit der Aussage, das Roma-Cover schüre keine Vorurteile, sondern illustriere lediglich die miserablen Lebensbedingungen der Roma-Kinder. Zu der Minarettverbotsinitiative, die ohne die Weltwoche kaum zustande gekommen wäre, sagte Landmann: "Der Islam ist nicht kastriert, wenn man ihm seine Minarette abschneidet."

Morddrohungen und eine Todesanzeige

Kurt Imhof, ein vielzitierter Publizistikwissenschaftler, den die Weltwoche gerne als "Professor Zensor" und "Großinquisitor" betitelt, warnte dagegen vor einer "Tyrannei der Mehrheit" auf Kosten ethnischer und religiöser Minderheiten: "Bedenkt das, citoyens! Republikanische Geschworene, Brüder und Schwestern des aufrichtigen liberalen Denkens!" Mehr polemischen Esprit hätte sich Milo Rau in seiner Heimat kaum wünschen können.

Noch vor drei Jahren ist er mit einer anderen Inszenierung in der Ostschweiz gescheitert. Er wollte den St. Gallener Lehrermord zum Anlass nehmen, um den Umgang mit Zuwanderern zu thematisieren. 1999 hatte ein Kosovo-Albaner in St. Gallen einen Lehrer umgebracht, was später in die Volksinitiative "für die Ausschaffung krimineller Ausländer" der Schweizerischen Volkspartei (SVP) mündete. Das Stadtparlament von St. Gallen verbot Milo Raus Inszenierung, der Regisseur erhielt Morddrohungen, seine Mutter bekam eine Todesanzeige ihres Sohnes zugeschickt.

Wirre Vorwürfe von realen Fehlleistungen trennen

Diesmal hatte Rau mehr Künstlerglück. Die Weltwoche ließ sich auf das Projekt ein, was auch von Roger Köppels strategischem Geschick zeugt. Seine Zeitung gilt vielen Schweizern als Sprachorgan der SVP, der stärksten Partei des Landes, beziehungsweise dessen Volkstribuns Christoph Blocher, kommt aber nicht über eine Auflage von 95.000 Exemplaren hinaus. Köppel lehnte es ab, persönlich an den Verhandlungen teilzunehmen, stattdessen führte er mit Rau ein Streitgespräch, das er mit der Unterzeile "Wozu das Theater?" pünktlich zum Prozessbeginn abdruckte.

"Der echte Roger Köppel kann nicht vor einem falschen Gericht stehen", sagt da der echte Roger Köppel. Der bekennende Linke Rau betont seinerseits, er wolle keinen Schauprozess gegen ein Blatt führen, zu deren klassischen Lesern er sich nicht zähle. Das juristische Format solle vielmehr helfen, die Tabuisierung der Weltwoche in den linken Kreisen zu überwinden und "wirre Vorwürfe von realen Fehlleistungen zu trennen."

In einem kleinen, schlecht gelüfteten Theatersaal ließ Milo Rau drei Tage lang Dutzende Journalisten, Aktivisten und Politiker aufeinandertreffen, die glauben, sie hätten in der Schweiz viel zu sagen, und oft nur von ihren Gleichgesinnten gehört werden. Diesmal wurden diese Menschen von de jeweils anderen gehört und von sieben bunt gecasteten Geschworenen, unter ihnen ein Germanist, eine kopftuchtragende Studentin der Islamwissenschaften, eine Gymnasiastin.

Michel Friedman spricht von "geistiger Brandstiftung"

Die Anklage führten der Anwalt Marc Spescha, einer der führenden Experten für Migrationsrecht, und der österreichische Publizist Robert Misik, Autor des Buchs "Politik der Paranoia". Ihre Strategie basierte im Wesentlichen darauf, historische Parallelen zwischen dem Journalismus der Weltwoche und der Judenverfolgung unter den Nazis zu ziehen. Der deutsche Kronzeuge Michel Friedman bezichtigte die Weltwoche der "geistigen Brandstiftung". Er warnte die Geschworenen, unter denen sich drei Rentner und ein Mann mit Glatze und Brille befanden, morgen könnten auch Rentner oder Glatzköpfe mit Brille als "die" stigmatisiert werden.

Die Verteidigung bemühte ihrerseits die Nazi-Vergangenheit, wobei sie für die Weltwoche die Rolle des Opfers beanspruchte. Valentin Landmann schaffte es, dem taz-Autor Misik "Kristallnacht-Mentalität" vorzuwerfen. Landmanns Assistent Claudio Zanetti, im wirklichen Leben SVP-Kantonsrat, warnte in Schwiizerdütsch davor, die Weltwoche zu rügen ("Freiheit" klingt bei Zanetti wie "Frechheit"). Von der Rüge sei es nicht weit zum schwarzen Zensurbalken und zur Verbrennung. Und wo man Bücher verbrenne, verbrenne man bekanntlich auch Menschen.

Alex Baur, der Autor einer Artikelserie über ausländische Sozialschmarotzer, sagte - ganz ohne Pathos - er müsse beim Anblick der Übersetzerkabine an das Glashäuschen denken, in dem Adolf Eichmann im Jerusalemer Gerichtssaal saß. Er selbst sehe sich als geistigen Erben Hannah Arendts.

Grotesk? Die Geschworenen sprachen die Weltwoche im Stimmverhältnis sechs zu eins frei. Die Zeitung habe die Grenzen der Medienfreiheit zum Schaden Dritter und der Zivilgesellschaft nicht überschritten. "Im Fußballjargon: Der Ball hat die Linie berührt, aber diese nicht übertreten." Überstimmt wurde eine Rentnerin, die einst als Deutsche aus Tschechien vertrieben wurde und mit 17 als Gastarbeiterin in die Schweiz kam.

Das Urteil passt zu einem Land, das immer mehr mit direkter Demokratie experimentiert - beim Bund sind 40 Volksbegehren registriert - und dabei die Meinungsfreiheit strenger hütet als sein Bankgeheimnis. Milo Rau wendet sich demnächst einem Land zu, in dem es keine Minarettverbote gibt. Am Münchner Residenztheater will er in der Spielzeit 2014/15 eine Performance mit dem Titel "Hassreden" inszenieren. Es soll um den NSU-Prozess gehen, die Schlägerei im U-Bahnhof Arabellapark und die Sicherheitskonferenz.

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