Theaterprojekt:Die Elenden 

Dem Chef der Münchner Kammerspiele wird vorgeworfen, mit seinem "shabbyshabby"-Wohnbau-Projekt Architekten und Künstler auszubeuten. Die aber verstehen die Aufregung nicht.

Von Gerhard Matzig

Vielleicht sollte man die Elenden zu Wort kommen lassen. Was sagen also die "ausgebeuteten Künstler", denen nun "soziale Selektion und Altersarmut drohen", die "krank wurden", weil sie "im Massenlager" nächtigen mussten. Auf "klammen Matratzen". Bei "hämmernder Musik". Bei "sechs Grad". "Schutzlos".

"Völlig lächerlich, absurd" findet beispielsweise der Münchner Architekt Muck Petzet den Shitstorm, den ein knapp vier Minuten langer Beitrag der Journalistin Antonia Goldhammer vor ein paar Tagen im Bayerischen Rundfunk ausgelöst hat. Der Wiener Architekturstudent Clemens Hoke sagt am Telefon: "Alles war total okay." Und der Landshuter Planer Petrit Pasha ergänzt: "großartig". Hören sich so Geschundene an? Ist "großartig" eine naheliegende Vokabel, wenn man gerade der Internierung aus dem Massenlager ("Europaletten") entkommen ist und vor der Altersarmut steht?

Doch - um den raunend investigativen Skandalon-Duktus der BR-Enthüllung aufzunehmen - "was ist passiert?"

Also: Noch vor der kürzlich erfolgten Eröffnung seiner ersten Spielzeit als Intendant der Münchner Kammerspiele hat Matthias Lilienthal im September das Projekt "Shabbyshabby Apartments" an die Isar geholt. Mit einem ähnlichen Projekt hatte er zuvor schon in Mannheim die virulente Wohnungsnot in Ballungsgebieten und die gebotene Rückeroberung des Stadtraums sowie das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit thematisiert. Nun sollte auch in München ein Wettbewerb, betreut vom Berliner Architektenteam "Raumlabor", für temporäre Billigst-Unterkünfte sorgen.

Die Künstler bekamen kein Honorar. Das ist Teil des Projekts mit kleinem Budget

An diesem Wettbewerb beteiligten sich nicht nur Architekten und Künstler, sondern auch Schüler, Studenten, Kreative aller Art. Meist junge Menschen. 258 Entwürfe gingen bei der Jury aus dem In- und Ausland ein. 24 davon wurden realisiert, wobei die Materialkosten für die vom 12. September bis 13. Oktober anmietbaren Raumobjekte (35 Euro die Nacht) jeweils 250 Euro nicht übersteigen sollten. So sind programmatisch für Münchens teure Innenstadt bewusst schäbige ("shabby") Bretterbuden aller Art entstanden. Wobei, und darauf kommt es an, allen Beteiligten von Anfang an klar war, dass niemand ein Honorar zu erwarten hätte. Darüber hinaus heißt es in der Ausschreibung von Raumlabor explizit: "Warnung! ( . . . ) im Fall, dass Ihr den Wettbewerb gewinnt, übernehmen Raumlabor und die Kammerspiele München Eure Kosten für Unterkunft, Verpflegung, Werkzeuge und Baumaterialien, aber keine Reisekosten."

Weil aber Matthias Lilienthal sich gern (und gut auch im PR-Sinn) als Rächer der Entrechteten inszeniert, als Utopist einer besseren Welt, muss der BR auf eine interessante Idee gekommen sein: Was wäre, wenn sich Robin Hood als Sheriff von Nottingham entlarven ließe? Als jemand, der genau jenes Prekariat schafft, dem er im Theater eine Stimme gibt? Das wäre ja ein Skandal!

So kam es zu einem Beitrag, der zwar keine Zeugen der Anklage benennt, aber vielleicht eben deshalb im Netz seine J'accuse-Rhetorik entfalten konnte. "Das ist eben das neoliberale Adressbuchtheater von Lilienthal", kommentierte anerkennend ein typischer Anonymous den BR-Beitrag, "alle KünstlerInnen unbezahlt, viele krank geworden, ausgebeutet, aber groß von Ikea gesponsert. Das ist nur noch (. . .) und zynisch." Das Vokabular des Shitstorms, der Lilienthal seither umtost: "arrogant", "borniert", "verlogen" . . .

Lilienthal, der die Kosten der gesamten Shabby-Aktion gegenüber der SZ auf knapp 300 000 Euro beziffert, wovon ein Teil durch Sponsoring abgedeckt wird (auch durch Sachspenden von Ikea), sagt, dass ihn das Ganze nicht kalt lasse, dass die Vorwürfe weh täten - dass er aber "damit leben muss". Dann entschlüpft ihm noch das Wort "Kampagne", das er aber sogleich wieder einfangen möchte.

Zu Recht, denn es geht wohl kaum um eine große Kampagne, sondern eher um ein großes Missverständnis sowie um die virtuelle Empörungsbereitschaft und Prangerkultur der Gegenwart. Tatsache ist: Lilienthal arbeitet schon lange mit einem partizipativen, öffentlichen Format, dessen ausdrückliche Lowbudgethaftigkeit konstitutiv ist. Den Teilnehmern ist das bekannt, sie willigen ein, sie sind ein Teil dieser Verabredung. Benjamin Foerster-Baldenius von Raumlabor sagt: "Niemand hat sich je darüber beschwert. Niemand." Das erledigt nun der BR, der hoffentlich seine Künstler so gut bezahlt, dass sie nicht der Altersarmut anheimfallen. Der fragliche BR-Beitrag moniert übrigens auch noch, dass die Entwurfsverfasser der Apartments öffentlich nicht genannt werden. Ein Klick ins Internet hätte der Reporterin enthüllt, dass auch das nicht stimmt an der Enthüllung.

Das Ganze ist offenbar kein Skandal - sondern vermutlich nur eine Performance zum Thema Enthüllungs-Journalismus.

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