Süddeutsche Zeitung

Theaterpremiere in Berlin:Showbühne der Lebenskrisen

René Pollesch sucht im Berliner Friedrichstadt-Palast mit Fabian Hinrichs den "Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt".

Von Peter Laudenbach

Das Schöne am Kapitalismus ist, dass man wenigstens einkaufen gehen kann. Dann steht man im Supermarkt zwischen all den Waren und ist weniger alleine. Weil es in René Polleschs neuem Stück mit dem schönen Titel "Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt" wie immer um alles, aber diesmal im Besonderen um die menschliche Einsamkeit, das fehlende Zuhause und den Kapitalismus geht, landet der Held dieses mäandernden Monologs logischerweise irgendwann vor den Lebensmittelregalen des Einzelhandels. "So ein Nettosupermarkt ist ja voller schöner einsamer Menschen", räsoniert die Monade. Also steckt er an der Kasse Fremden in der Warteschlange seine Telefonnummer zu - "und alle rufen an!" Der einsame Mensch in Gestalt des Turboschauspielers Fabian Hinrichs geht zwar allein durchs Leben, aber auf der Bühne begleitet ihn ein großer Chor von Tänzern, der wie ein Echo auf diese Wunschfantasie antwortet: "Alle!"

Für ihre neue Inszenierung haben sich Pollesch und Hinrichs einen Ort ausgesucht, der noch etwas schöner, verheißungsvoller glitzernd und abenteuerlicher ist als der Supermarkt des Vertrauens. Sie sind mit ihrem Diskurspop-Theater ausgerechnet im Berliner Friedrichstadt-Palast gelandet, einem riesigen Revuetheater mit 2000 Zuschauerplätzen und der größten Showbühne Europas. Ihre Dimensionen werden von Hinrichs zu Beginn respektvoll gewürdigt: "Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, so wünschte ich mir weder Reichtum noch Macht, sondern nur eine 38 Meter breite und 37 Meter tiefe Bühne." Diese Tiefe will erkundet werden, also schreitet Hinrichs in seinem lustigen Ganzkörperglitzeroutfit (Kostüme: Tabea Braun, Stefano Canulli, Philip Treacy) langsam nach hinten, bis er nur noch als kleines Männchen in der Bühnentiefe zu ahnen ist. Wobei Hinrichs, spricht er von Tiefe, immer auch menschliche Tiefe meint: "Tiefe ist, wenn man sich öfter sieht."

Normalerweise finden auf dieser Revue-Bühne perfekt choreografierte Hightech-Spektakel im Las-Vegas-Format statt, ein Entertainment-Feuerwerk in Hochpräzision, in dem Fragen nach Sinn und Unsinn des Kapitalismus und der eigenen Existenz eher nicht zu den Standardthemen gehören. Nichts könnte hier fremder sein als Polleschs Gedankenbeschleuniger-Theater der überraschenden Assoziationsketten. Und genau deshalb funktioniert die Inszenierung an diesem Ort ganz prächtig.

Wie der Abend des Clashs der Theaterkulturen zustande kam, ist eine schöne Berliner Geschichte der sich berührenden Geschmacksvorlieben jenseits aller autistischen Blasen. Pollesch hatte schon immer ein Faible für Boulevard und Pop-Formate. Als eher zufällig die Idee aufkam, für eine Inszenierung die Bühne des Friedrichstadt-Palastes zu erobern, schickte ein gemeinsamer Freund eine SMS an Berndt Schmidt, den Intendanten des Friedrichstadt-Palastes. Der entpuppte sich als großer Pollesch-Fan und öffnete alle Türen - durchaus wagemutig für ein Theater mit gänzlich anderem Profil. Pollesch und Hinrichs fragten die Tänzer des Hauses, wer Lust hatte, mitzumachen, war herzlich eingeladen. Eigentlich arbeitet Pollesch am Deutschen Theater, wenige Hundert Meter vom Palast entfernt. Ulrich Khuon, der DT-Intendant, reagierte nicht eifersüchtig, sondern sehr großzügig. Er verübelte Pollesch den Ausflug zur Palast-Konkurrenz nicht, er unterstützte die Produktion sogar und stellte ihr eine Probebühne zur Verfügung.

Pollesch und Hinrichs spielen charmant und ironisch mit den Gesetzen der Revuebühne

Pollesch und Hinrichs spielen an diesem Abend charmant und ironisch mit den Gesetzen der Revuebühne. Zu einer Revue gehört die Showtreppe, also darf sie auch hier nicht fehlen. Allerdings tänzelt Hinrichs nicht elegant auf ihr, sondern schlurft ultralangsam und offenbar schwer depressiv mehrmals von oben nach unten und von unten nach oben. Es handelt sich offenbar um eine Lebenskrisen-Showtreppe der existenziellen Sinnlosigkeit. Selbstverständlich wird auch die in allen Berlinkulturreiseführern gerühmte Palast-Chorusline der rampenparallel synchron geschwungenen Tänzerbeine nicht verschmäht. Aber weil das wie ein Zitat, als Trainingseinheit und Trockenübung ohne Musik exerziert wird, bekommt das Revueklassikerzitat kurz die Mechanik eines millimetergenau absolvierten militärischen Drills. Auch die beeindruckende Lasertechnik des Palasts will mit Freude am Bombast genutzt sein. Weil dazu ein Pink Floyd-Verschnitt wabert oder unter Umgehung aller Schmerzgrenzen schlimmster Eurotrashpop rummst, hat das den aparten Beigeschmack von Dorfdisco. Was wiederum sehr schön dazu passt, dass Hinrichs Grübelmonolog gerne in Regionen der Kindheits- und Jugenderinnerungen abtaucht.

Revue-Show bedeutet Tempo und eine Überflutung mit den verführerischsten Körper-, Bild- und Klangreizen. Also machen Pollesch und Hinrichs genau das Gegenteil: Melancholie, kein Tempo und erst recht kein visueller Reizoverkill. Das Abenteuer findet im Kopf oder im Herzen statt. Als kleine Gestalt auf der Riesenbühne bekommt Hinrichs mit seinen Selbstgesprächslabyrinthen eine sehr konkrete Verlorenheit, wenn er sich fragt, was das ist, "diese grundlegende Einsamkeit. Dieser unendliche Schmerz, dass es kein Zuhause gibt." Das Motiv durchzieht den ganzen Abend, und wie in einer früheren Pollesch-Arbeit, den "Manzini-Studien", geht es irgendwann um eine Liebestrennung. "Ich habe zumindest abgespeichert, dass das mal funktioniert hat, die Nähe, dass es gelingt, das man einmal nicht einsam ist", grübelt Hinrichs, während er und der gesamte Chor in einem schön absurden Bild unter einer riesigen grauen Seidendecke verschwinden.

Wenn sie sich darunter bewegen und die Seide Wellen wirft, sieht es aus wie ein atmendes Lebewesen, eine Bettdecke oder ein Zelt, in dem das Liebespaar in besseren Tagen zusammen war. Wer zufällig gerade Liebeskummer hat, dürfte seine traurige Freude an dieser Szene haben. Polleschs Texte sind nie privat oder gar autobiografisch, aber sie sind immer persönlich. An diesem Abend entsteht im Kontrast zur Großraumbühne eine kitschfrei berührende Intimität dieses persönlichen Sprechens. Das ist das Paradox dieser umwerfenden Inszenierung: Sie spielt mit den Revueelementen, kapert sie spöttisch, macht daraus etwas ganz Eigenes und landet beim Nachdenken über die ungelösten Fragen des eigenen Lebens.

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Quelle:
SZ vom 11.10.2019
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