Theaterpremiere:Gefangen in der Selbstbeschau

Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft?

Die Schauspieler liefern rasches Pingpong in Pessimismus.

(Foto: Thomas Aurin)

René Polleschs Thesenstück zur modernen Selbsterfahrung am Schauspiel Stuttgart geht zuletzt die Puste aus.

Von Adrienne Braun

Astrid Meyerfeldt hat sich verliebt. Stolze 800 Kilo bringt das Objekt ihrer Begierde auf die Waage - und sollte damit doch eigentlich ihrer Liebe standhalten, einer Liebe, wie Meyerfeldt pathetisch faselt, "die nie mehr aufhört". Aber dieses Gegenüber brüllt immer nur "Ich bin der Mann. Ich bin der Mann". Verkehrte Welt: Dieser Mann wird hier von einem Chor von 17 jungen Frauen dargestellt. Köln lässt grüßen - diese harsche Meute beschwört Bilder herauf von den Übergriffen in der Silvesternacht bis hin zum grapschenden Donald Trump und "Grab them by the pussy."

"Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft?" hat René Pollesch seine neue, vorerst letzte Produktion am Schauspiel Stuttgart überschrieben und dazu kühn Filmzitate, Philosophie und Soziologie gemixt. Pate standen Louis Malle, Alfred Hitchcock, aber auch Jerzy Grotowski mit seinen kollektiven Theaterexperimenten. Bruno Latour meets Beach Boys, Trump und John Travolta begegnen sich in komplex-chaotischer Gesellschaftsanalyse, die das Ensemble im raschen Abtausch ausspuckt, garniert mit verzweifelten "Scheiße"-Schreien.

Pollesch tritt mit steiler These an: Im Jahr 1968 hätten nicht allein die Studenten die Welt revolutioniert, sondern auch eine Fotografie tat es, die Astronauten der Apollo 8-Mission von der Erde schossen. Eine 180-Grad-Drehung, die "ein völlig neues Bewusstsein geschaffen" habe: Denn der Blick des Menschen richte sich fortan nicht mehr nach außen, sondern vice versa auf die Erde, auf sich selbst. Die Geburtsstunde der narzisstischen Gesellschaft, die sich als Mittelpunkt des Universums begreift - Selbstbeschau, "psychedelische Innenwelten" und "die ganze Selbsterfahrungsscheiße", wie es im Stück heißt.

Schlechte Chancen für die Zukunft. Die fünf Schauspieler drängen sich auf ein eigenwilliges Holzgestell und werfen sich wie im Pingpong Pessimismen an den Kopf. Die Veränderung der Welt sei kein soziales Projekt mehr, sondern alles kreise nur um die "therapeutische Selbstrevolution" des Individuums, doch "die Welt ändert sich nicht, wenn ich mich ändere." Privates gegen Politisches, Hippie und Bürger, Avantgarde und Popkultur - Pollesch wirft viele Gegensatzpaare in den Ring, um sie doch nur ad absurdum zu führen. Denken und Fühlen, Innen und Außen, Individuum und Kollektiv, im oder am System vorbei, die Kategorien werden obsolet und provozieren mit Bedacht die völlige intellektuelle Überforderung. Oder mit Astrid Meyerfeldt: "Das sind doch alles nur Beiträge zu meiner Gesamtverwirrung."

Astrid Meyerfeldt, in biederer Bluse mit Schlupp und weißem Kragen, ist großartig, prädestiniert für Polleschs Bühnenkosmos. Witz, Ernsthaftigkeit und vollständige Verstörung treffen bei ihr kongenial zusammen, sie läuft mit solcher Hingabe in philosophische Sackgassen, dass ihre Kollegen neben ihr sehr blass wirken. Julischka Eichel, Christian Czeremnych und Christian Schneeweiß sind beiläufige Stichwortgeber, nur Abak Safaei-Rad hält Meyerfeldts Präsenz stand. Ein starkes Gegenüber ist aber die Schar junger Frauen, die im Chor sprechen mögen, aber doch wie ein vielschichtiger Organismus agieren.

"Wir müssen etwas finden, das die Handlung vorantreibt", seufzen die Schauspieler immer wieder kokett, um zu betonen, dass auch das Theater Opfer des Konsumismus ist, sich zwanghaft neu erfinden soll - und dabei doch nur auf der Stelle zu treten scheint. Pollesch hält es jedenfalls mit Slavoj Zizek: Der ständige Wechsel und die permanente Selbstrevolutionierung, so der Kulturkritiker, führe letztlich zum völligem Stillstand.

"Es kann doch nicht immer alles intensiv sein, ich kann nicht mehr", jammert auch Meyerfeldt. Und René Pollesch scheint die Puste ausgegangen zu sein in dieser Schmalspurproduktion, die auf jeden Kameraeinsatz verzichtet, nur wenige Spielszenen bietet und ganz auf Meyerfeldts Stärke setzt. Immer wieder überlässt Pollesch das Geschehen wie erleichtert der Choreografin Nasra Mohamed-Ali, die mit dem Frauenchor lässige Formationen à la "Grease" einstudiert hat. Sogar die Technik übernimmt mal das Regiment und seilt mehrfach ruhig eine riesige Zunge vom Schnürboden ab und bringt sie in die Waagrechte - als strecke Pollesch, der die Erwartungen nicht recht erfüllen mag oder kann, dem Publikum, ätsch, die Zunge heraus.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: