Theaterkrise in München:Kammerspiele? Jammerspiele!

Matthias Lilienthal

Viel wurde erwartet von Matthias Lilienthal. Nun ist die Stimmung gedämpft.

(Foto: lukasbarth.com)

Matthias Lilienthal, seit einem Jahr Intendant in München, liebt Performance und klare politische Botschaften. Mit klassischem Schauspiel kann er wenig anfangen. Das ist ein Problem.

Von Christine Dössel

Was ist da an den Kammerspielen los?" Diese Frage bekommt man als Münchner Theaterkritikerin derzeit überall gestellt - auch außerhalb von München, auch von Leuten, die eher keine Theatergänger sind. Die Münchner Kammerspiele sind ein geschichtsträchtiges Haus von überregionaler Strahlkraft, das vielleicht tollste in Deutschland, sicherlich das schönste. Liegt da etwas im Argen, strahlt auch das Arge überregional ab.

Man hört: Es läuft nicht gut an dem Haus, seit Matthias Lilienthal es vor einem Jahr übernommen hat. Zuschauer sind enttäuscht, Mitarbeiter auch. Viele am Haus leiden, im Parkett noch mehr. Manche sprechen schon von den "Münchner Kummerspielen". Nicht wenige fürchten um den legendären "Geist" des Hauses, von dem man annahm, er sei unzerstörbar - diese besondere Mischung aus Qualitätsbewusstsein, Anspruchshaltung und Wir-Gefühl. Einen Geist, den man auch als Zuschauer spürte, wenn man das Theater betrat, und der viel mit der Liebe zu den wunderbaren Schauspielern dort zu tun hatte.

Man weiß: Brigitte Hobmeier, Katja Bürkle und Anna Drexler haben zum Ende der Spielzeit aus Unzufriedenheit gekündigt - drei Top-Schauspielerinnen, die dem Ensemble schon unter Lilienthals Vorgängern Frank Baumbauer und Johan Simons angehörten, zu einer Zeit also, als die Kammerspiele noch Schauspielertheater machten, teils sogar richtige Stücke spielten und dennoch nicht verstaubt waren.

Das Vertrauen in Lilienthal war groß, obwohl er das bürgerliche Schauspiel als "Kunstkacke" abtat

Eine hochkarätige Sprech- und Schauspielkunst, wie sie Hobmeier, Drexler und Bürkle beherrschen - und für die sie gefeiert wurden -, ist an den "neuen" Kammerspielen nicht mehr gefragt. Das interdisziplinäre, partizipative, postdramatische Diskurs- und Performancetheater, das Lilienthal nun mit schier ideologischer Vehemenz etabliert, will nicht den Schauspielvirtuosen, sondern den Performer. Nicht eine Rolle, sondern sich selbst soll er verkörpern, soll Repräsentant sein eines "Lebensgefühls 4.0", wie Lilienthals Chefdramaturg Benjamin von Blomberg das Klassenziel benannte. Das "So bin ich" ist in diesem Theater das neue "Als ob".

Das könnte ja alles sehr an- und aufregend sein. Nichts gegen eine Neuorientierung und weitere Öffnung, dafür wurde der gut vernetzte Theatergrenzgänger Lilienthal ja geholt. Der Berliner, Jahrgang 1959, war in den Neunzigerjahren Chefdramaturg und hausprägender Beistand von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne, als diese die Weichen Richtung Kultbühne stellte. Von 2003 bis 2012 leitete er dann mit großem Erfolg das Berliner Theaterkombinat HAU. Was ihm damals gelang: mit wenig Geld viel Rambazamba zu machen. Er betrieb das Theater als Durchlauferhitzer für freie Gruppen und Gastspiele, aber auch als Labor und Partyraum. An die 1000 Produktionen hat Lilienthal in seinen neun Jahren am HAU herausgehauen, etwa 120 pro Spielzeit. Als er dann noch ein Jahr in Beirut verbrachte und 2014 das Festival "Theater der Welt" organisierte, galt er endgültig als Mr. International - der wache Global Player in einer rückständigen bürgerlichen Theaterwelt.

Als der ehrgeizige Münchner Kulturreferent Hans-Georg Küppers 2013 Lilienthal als Überraschungskandidaten für die Nachfolge von Johan Simons aus dem Hut zauberte, lobte er ihn als den "zukunftsweisendsten und wandlungsfähigsten Theatermacher unserer Zeit" und wurde seinerseits für diese Entscheidung gelobt - auch von der Autorin dieses Textes. Ja, das Vertrauen in Lilienthal war groß, auch wenn dieser die bürgerlichen Schauspielhäuser schon mal als "vernagelte Stadttheaterkisten" abtat und das, was darin gegeben wird, als "Kunstkacke".

Hätte man hellhöriger, misstrauischer sein müssen, bevor man einem freien Radikalen wie ihm die Kammerspiele anvertraut? Ihn davor härter befragen müssen? Es mag im Nachhinein naiv wirken, aber man dachte, der Deal sei: Lilienthal soll die Kammerspiele mit seiner Volksbühnen- und HAU-Erfahrung weiterführen zu einer Art "Kammerspiele plus" - einem international aufgestellten, ästhetisch wie gesellschaftlich nach allen Seiten hin offenen Sprech- und Ensembletheater auf dem Qualitätssockel seiner Tradition. Aber was macht Lilienthal? Er macht: HAU.

Als würde hier das Theater neu erfunden

Als sei er auf der Höhe seines Ruhmes - und damit auch im Denken - stehen geblieben, übernimmt er seine Berliner Erfolgsstrategien von damals und verpflanzt sie, Jahre später, nahezu eins zu eins nach München - an ein völlig anders strukturiertes Haus, in eine völlig anders tickende Stadt.

Also lädt er die Gruppen und Regisseure ein, die er schon damals eingeladen hat. Also macht er aus dem Haus eine Art Gastspielbetrieb mit angeschlossener Partyzone und nennt sein Ensemble, in dem Schauspieler nicht mehr gepflegt werden, die "beste freie Gruppe Mitteleuropas". Selbst die Namensgebung HAU 1-3 hat Lilienthal unpassenderweise auf die Münchner Spielorte übertragen: Schauspielhaus, Werkraum und Spielhalle heißen nun Kammer 1, 2 und 3, was für Münchner einigermaßen schmerzlich ist.

Lilienthal soll Intendant der Kammerspiele werden

Matthias Lilienthal, geboren 1959, hat von 2003 bis 2012 das Berliner HAU geleitet und sich dort den Ruf eines Avantgardisten erworben. Seit 2015 ist er Chef der Münchner Kammerspiele.

(Foto: Tobias Hase/dpa)

Ärgerlich ist auch der Gestus, mit dem dies alles vollzogen wird: Als hätte München gehörig was nachzuholen. Als würde jetzt hier das Theater neu erfunden. Mitnichten. Nicht nur, dass die Münchner mit Regiekollektiven wie Gob Squad, Rimini Protokoll oder She She Pop durchaus vertraut sind - sie haben beim Festival "Spielart" schon wesentlich Besseres von ihnen gesehen als das, was diese Performancegruppen bisher an den Kammerspielen ablieferten. Dass die Performeritis an dem Haus derart um sich greift, dass sie jegliches traditionellere Sprechtheater hinwegrafft, ist das eine. Dass sie keine großen, wichtigen, dem einstigen Niveau des Hauses würdigen Arbeiten hervorbringt, das andere. Ja, es gab ein paar Erfolge - Nicolas Stemanns "Wut"-Inszenierung etwa oder zuletzt "Der Fall Meursault" und Yael Ronens "Point Of No Return" -, aber das meiste ist Mittelmaß, harmlos, oberflächlich, simpel: Pipifax-Theater mit dem Anspruch, erklärend, belehrend und gerne auch migrationshintergründig sozial, global und politisch korrekt zu sein.

Man weiß nie: Ist das ein Gastspiel, eine Eigenproduktion oder ein Kochabend mit Syrern?

So werden die Zuschauer - wie auch die Schauspieler - an Lilienthals Kammerspielen permanent unterfordert. Viel lieber wäre man überfordert, herausgefordert, zum Schäumen oder Nachdenken angestachelt. Überfordert ist man aber nur auf der sehr chaotischen Internetseite des Hauses, wo man nie genau weiß: Ist das ein Gastspiel, eine Eigenproduktion oder ein Kochabend mit Syrern?

Lilienthal begnügt sich mit Oberflächenreizungen, mit Namen und Setzungen, die er "spannend" (seine Lieblingsvokabel) findet. Die inhaltliche Ausführung ist nicht so wichtig. Dabei fängt hier die Arbeit erst an - nicht nur die des Dramaturgen, sondern auch die eines Intendanten, der Künstler nicht nur einladen, sondern begleiten und betreuen müsste.

Kürzlich musste die geplante Inszenierung "Unterwerfung/Plattform" nach den Romanen von Michel Houellebecq abgesagt werden, weil der französische Jungregiestar Julien Gosselin an den Proben scheiterte und dann, wie es hieß, wortlos abtauchte. Der junge Mann hat dem Ensemble zumindest noch einen Brief geschrieben, der der SZ vorliegt. Darin heißt es: "Man hat von mir verlangt zu produzieren (...), unter allen Umständen zu produzieren. Vielleicht ist das arrogant von mir, aber ich produziere nicht. Das was ich versuche, ist zu kreieren (créer). Kunst zu machen, wenigstens ein bisschen."

Gosselin schreibt, er strebe Perfektion an - oder zumindest den "weitest möglichen Punkt", an den er mit seiner Kunst kommen kann. Die Kammerspiele aber hätten ihn wissen lassen, dass dies nicht nötig sei: "Man hat mit mir über Politik gesprochen, über Sinn. Man hat mir gesagt, dass es darum gehe, eine Botschaft rüberzubringen (passer des messages)." Er aber suche nicht nach Botschaften, sondern nach Ästhetiken, nach Welten und Menschen: "Etwas, was außerhalb eines Sinns liegt. Außerhalb einer Politik. Außerhalb einer Botschaft. Etwas, was Schönheit ist."

Da hat Gosselin gut beschrieben, was in Lilienthals Sozialtheaterverein schmerzhaft fehlt: die Kunst. Und leider auch ihre Wertschätzung. Was das Problem ist an den Kammerspielen? Es besteht die Gefahr, dass hier ein Theater an die Wand gefahren wird. Nicht irgendein Theater, sondern eines der besten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: