Als sei er auf der Höhe seines Ruhmes - und damit auch im Denken - stehen geblieben, übernimmt er seine Berliner Erfolgsstrategien von damals und verpflanzt sie, Jahre später, nahezu eins zu eins nach München - an ein völlig anders strukturiertes Haus, in eine völlig anders tickende Stadt.
Also lädt er die Gruppen und Regisseure ein, die er schon damals eingeladen hat. Also macht er aus dem Haus eine Art Gastspielbetrieb mit angeschlossener Partyzone und nennt sein Ensemble, in dem Schauspieler nicht mehr gepflegt werden, die "beste freie Gruppe Mitteleuropas". Selbst die Namensgebung HAU 1-3 hat Lilienthal unpassenderweise auf die Münchner Spielorte übertragen: Schauspielhaus, Werkraum und Spielhalle heißen nun Kammer 1, 2 und 3, was für Münchner einigermaßen schmerzlich ist.
Matthias Lilienthal, geboren 1959, hat von 2003 bis 2012 das Berliner HAU geleitet und sich dort den Ruf eines Avantgardisten erworben. Seit 2015 ist er Chef der Münchner Kammerspiele.
(Foto: Tobias Hase/dpa)Ärgerlich ist auch der Gestus, mit dem dies alles vollzogen wird: Als hätte München gehörig was nachzuholen. Als würde jetzt hier das Theater neu erfunden. Mitnichten. Nicht nur, dass die Münchner mit Regiekollektiven wie Gob Squad, Rimini Protokoll oder She She Pop durchaus vertraut sind - sie haben beim Festival "Spielart" schon wesentlich Besseres von ihnen gesehen als das, was diese Performancegruppen bisher an den Kammerspielen ablieferten. Dass die Performeritis an dem Haus derart um sich greift, dass sie jegliches traditionellere Sprechtheater hinwegrafft, ist das eine. Dass sie keine großen, wichtigen, dem einstigen Niveau des Hauses würdigen Arbeiten hervorbringt, das andere. Ja, es gab ein paar Erfolge - Nicolas Stemanns "Wut"-Inszenierung etwa oder zuletzt "Der Fall Meursault" und Yael Ronens "Point Of No Return" -, aber das meiste ist Mittelmaß, harmlos, oberflächlich, simpel: Pipifax-Theater mit dem Anspruch, erklärend, belehrend und gerne auch migrationshintergründig sozial, global und politisch korrekt zu sein.
Man weiß nie: Ist das ein Gastspiel, eine Eigenproduktion oder ein Kochabend mit Syrern?
So werden die Zuschauer - wie auch die Schauspieler - an Lilienthals Kammerspielen permanent unterfordert. Viel lieber wäre man überfordert, herausgefordert, zum Schäumen oder Nachdenken angestachelt. Überfordert ist man aber nur auf der sehr chaotischen Internetseite des Hauses, wo man nie genau weiß: Ist das ein Gastspiel, eine Eigenproduktion oder ein Kochabend mit Syrern?
Lilienthal begnügt sich mit Oberflächenreizungen, mit Namen und Setzungen, die er "spannend" (seine Lieblingsvokabel) findet. Die inhaltliche Ausführung ist nicht so wichtig. Dabei fängt hier die Arbeit erst an - nicht nur die des Dramaturgen, sondern auch die eines Intendanten, der Künstler nicht nur einladen, sondern begleiten und betreuen müsste.
Kürzlich musste die geplante Inszenierung "Unterwerfung/Plattform" nach den Romanen von Michel Houellebecq abgesagt werden, weil der französische Jungregiestar Julien Gosselin an den Proben scheiterte und dann, wie es hieß, wortlos abtauchte. Der junge Mann hat dem Ensemble zumindest noch einen Brief geschrieben, der der SZ vorliegt. Darin heißt es: "Man hat von mir verlangt zu produzieren (...), unter allen Umständen zu produzieren. Vielleicht ist das arrogant von mir, aber ich produziere nicht. Das was ich versuche, ist zu kreieren (créer). Kunst zu machen, wenigstens ein bisschen."
Gosselin schreibt, er strebe Perfektion an - oder zumindest den "weitest möglichen Punkt", an den er mit seiner Kunst kommen kann. Die Kammerspiele aber hätten ihn wissen lassen, dass dies nicht nötig sei: "Man hat mit mir über Politik gesprochen, über Sinn. Man hat mir gesagt, dass es darum gehe, eine Botschaft rüberzubringen (passer des messages)." Er aber suche nicht nach Botschaften, sondern nach Ästhetiken, nach Welten und Menschen: "Etwas, was außerhalb eines Sinns liegt. Außerhalb einer Politik. Außerhalb einer Botschaft. Etwas, was Schönheit ist."
Da hat Gosselin gut beschrieben, was in Lilienthals Sozialtheaterverein schmerzhaft fehlt: die Kunst. Und leider auch ihre Wertschätzung. Was das Problem ist an den Kammerspielen? Es besteht die Gefahr, dass hier ein Theater an die Wand gefahren wird. Nicht irgendein Theater, sondern eines der besten.