Theaterdebatte:Die Brückenbauer

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Sind die weltgewandten Kulturbegriffe von Kuratoren wie Chris Dercon eine Bedrohung fürs Theater?

Von Amelie Deuflhard

Starkult und autoritäre Herrschaft von Intendanten sind, glaubt man Christopher Balme, typisch im Reich unserer Theater ( siehe SZ vom 1. 9.). Folgt man seiner Argumentation, besteht die Stadttheaterstruktur im Geiste des Absolutismus. Fidel Castro, Hitler oder der Papst erscheinen als Referenzen der deutschen, immer männlichen Intendanten. Sein Fazit: Regisseure sollten keine Intendanten sein, zu groß seien Machtfülle und Möglichkeit des Machtmissbrauchs.

Dabei geht es beim Streit um die Volksbühne nicht um den Streit von zwei hoch geschätzten charismatischen Männern beziehungsweise Künstlerpersönlichkeiten. Es geht nicht um Frank Castorf, der das Theater in Deutschland wie kein anderer geprägt hat. Castorf, der mit seiner anarchisch-autoritären Leitung das deutsche Stadttheater gemeinsam mit seinen künstlerischen Mitstreitern neu erfand. Er hat bildende Künstler, Wissenschaftler, Musiker mit ihren Bands, Obdachlose und Behinderte in das Programm einbezogen, er hat "die Kampfzone erweitert", neue Räume erschlossen und den Stadtraum in zahlreichen Projekten zur Bühne gemacht.

In den sozialen Medien wird inzwischen alles kuratiert, Playlists, Freunde, das Leben

Wenn irgendwo das Kuratieren am Theater miterfunden wurde, dann auf jeden Fall auch an der Volksbühne. Und die Volksbühne hat den Osten lebendig praktiziert, sich seiner umfassenden Auflösung entgegengestellt, dabei stets den Kapitalismus mit seinen Marktmechanismen attackiert, kapitalismuskritische Konferenzen organisiert, während rundherum Berlin-Mitte gentrifiziert wurde und die Regierung alles abgewickelt hat, was an die DDR und den Sozialismus erinnerte. Frank Castorf, Local Player mit internationaler Strahlkraft.

Es geht in dieser Diskussion auch nicht um Chris Dercon, der zwar nicht gerade ein Theaterexperte, aber einer der Stars der bildenden Kunstszene ist, der die Museen, die er leitete, öffnete für Performance, Architektur, Mode, Film, Fotografie und andere angrenzende Disziplinen. Der mit vielen Künstlerinnen und Künstlern gearbeitet hat, die auch an der Volksbühne aufgetreten sind. Der wichtige Ausstellungen kuratiert hat und weit oben steht in der Liste der einflussreichen Kuratoren. Chris Dercon, Global Player, von dem man noch nicht weiß, was er in Berlin mit der Volksbühne vorhat.

Nein, bei dieser seit einem Jahr schwelenden Debatte geht es ums Ganze, es geht um das System, es geht um das deutsche Stadttheater, das Antje Vollmer schon vor etwa zehn Jahren in den "Katalog der ewigen Dinge" aufnehmen wollte. Es geht um die Frage, wie man diese Häuser mit ihrem Personal nutzen kann, ob man sie öffnen, verändern und internationalisieren soll. Es geht um das Herz des Stadttheaters, um den Erhalt des Ensembles, das im Kern dieses Systems steht, die Techniker, die Werkstätten, die großartige Manufakturen sind.

Der Neue, Chris Dercon, löst Angst aus. Angst vor Effizienzsteigerung, Marktangepasstheit, Neoliberalismus, Internationalisierung, vor allem aber die Angst, dass er das Ensemble auflösen könnte. Und natürlich die Angst, dass er die Volksbühne zur neuerdings sogenannten "Eventbude" machen könnte, zum "international kuratierten Produktionshaus" oder "Festivalbetrieb", Begriffe, die neuerdings nicht nur in der Volksbühnen-Debatte despektierlich verwendet werden.

Kurator ist ein Begriff, der gerade zum Schimpfwort wird. Der Kurator, die Kuratorin wird zum Inbegriff des Theaterzerstörers. Sein oder ihr Programm steht für internationalen Mainstream und Austauschbarkeit. Schauspielertheater steht dagegen für Einzigartigkeit. Warum eigentlich? Es stimmt, dass das Kuratieren in den letzten Jahren zum Allerweltsbegriff geworden ist. In einer immer unübersichtlicheren und von Daten überfluteten Welt kuratiert man Wissen, Radioshows, Ausstattungen von Möbelgeschäften oder Bioläden, in den Social Media werden alle Inhalte kuratiert. Man kuratiert die Playlist, die Freunde und natürlich auch seine persönlichen Aktivitäten, sein Leben. Jeder Mensch ist ein Kurator. Aber auch darum geht es nicht in der Debatte.

Der Begriff Kuratieren kommt von curare und heißt Sorge tragen und pflegen. Kuratorinnen und Kuratoren sind eigentlich die Kümmerer. Und Kurator zu sein ist Beruf und im besten Fall auch Berufung. Der Begriff kommt aus der bildenden Kunst, wo Ausstellungsmacher Kuratoren genannt werden. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Kuratoren sind keine Künstler. Sie sind Forscher, Komplizen der Künstler, Möglichmacher, Anreger oder Berater von Projekten. Sie sind Kontextualisierer und bringen künstlerische Arbeiten in einen größeren Erfahrungsraum, stellen Bezüge und Kontexte her und schaffen damit neue Erzählungen, die im besten Fall die Kraft der Einzelkünstler noch verstärken.

Kuratoren sind Brückenbauer zwischen lokalen und globalen Phänomenen und verhandeln das Nebeneinander unterschiedlicher Weltanschauungen, kultureller Hintergründe, Theorien, politischer Haltungen und Ästhetiken in unserer medial überfluteten Welt. Sie stellen politische und künstlerische Sicherheiten in Frage, produzieren Zweifel, Unsicherheiten und Unruhe und schöpfen daraus den Antrieb zum Handeln. Kuratoren sind auch Entdecker und Analysten des internationalen Kunstbetriebes, immer auf der Suche nach aktuellen Themen, neuen Künstlern und Kunstbegriffen, nach neuen Erfahrungen von Raum, Zeit und Welt.

Eine solche Arbeit ist auch am Theater möglich - mit oder ohne Ensemble. Sie wird vor allem gemacht für Festivals und an internationalen Produktionshäusern wie Kampnagel in Hamburg, dem HAU Berlin oder dem Frankfurter Mousonturm. Häuser wie diese haben sich in den letzten Jahren zu Forschungslaboren für Theater, Tanz, Musik, bildende Kunst und Performance entwickelt. In ihren Räumlichkeiten thematisieren Künstlerinnen und Künstler Perspektiv- und Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft und erfinden dazu neue Ausdrucksformen.

Kuratorinnen und Kuratoren arbeiten international, kollaborativ und sind rhizomatisch in unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche vernetzt. Sie sind Pioniere im Schaffen von neuen öffentlichen und sozialen Räumen, künstlerischen Interaktionen im öffentlichen Raum, Plattformen und Netzwerken, Marktplätzen der Wissensvermittlung. Sie erfinden Formate der Teilhabe, schaffen neuartige Vermittlungsformate und Stadtraumprojekte an neuralgischen Orten, sozialen oder ökologischen Brennpunkten oder Orten der Gentrifizierung. Als Labore für das Wechselspiel von lokalen und globalen Zusammenhängen haben sie längst Modellcharakter.

Für diese kuratorische Praxis steht unter anderen Frie Leysen, die Grande Dame der internationalen Performanceszene, die große Entdeckerin und Förderin von Künstlern, die in ihren Festivals seit den Neunzigerjahren den Blick für außereuropäische Kunstproduktion geöffnet hat und die zu Recht als einflussreichste Kuratorin der internationalen Performanceszene gilt.

Beispielhaft für kuratierte Projekte im oben genannten Geiste sei die KVS in Brüssel (das flämische Stadttheater) genannt, die ihr Ensemble auflöste, um projektorientiert zu arbeiten. Über zehn Jahre hat die KVS intensive künstlerische Beziehungen mit dem Kongo und anderen afrikanischen Ländern aufgebaut. Mit diesen Kollaborationen hatte das Haus nicht nur einen riesigen Impact auf künstlerische Produktion im Kongo, sondern auch in Belgien einen nachhaltigen Diskurs über Postkolonialismus geführt. Und fast wie nebenbei hat das Haus auch ein großes Publikum aus der afrikanischen Diaspora in Brüssel aufgebaut.

Die Volksbühne war das einzige Stadttheater, das solche neuen Formate schon früh erfunden hat

Der Volkspalast 2004 ist ein Beispiel aus Berlin: die performative Bespielung des dekonstruierten Palastes der Republik, der nicht nur die Debatte um Palastabriss versus Wiederaufbau des Stadtschlosses erhitzte und ernsthaft führte, sondern auch die Beziehung zwischen West- und Ostberlin 15 Jahre nach der Wende thematisierte und dazu eine Vielzahl freischaffender Künstlerinnen und Künstler der Nachwendezeit einlud, Visionen für die Zukunft Berlins zu entwickeln.

Dazu gehören aber auch performative Installationen und innovative, interkulturelle Plattformen auf Kampnagel in Hamburg - wie 2014 das Winterquartier und der Aktionsraum Ecofavela für Geflüchtete, der aktuell von Migrantinnen und Migranten selbstverwaltete Kunst-, Diskurs- und Community-Ort Migrantpolitan und 2015 der real betriebene Badetempel Hamamness, eine Installation, die sich transkulturellen Fragen widmete und in der das Publikum Vorurteile "abschrubben" konnte. In solchen Räumen entstehen Architekturen, denen eine Nutzung eingeschrieben wird und die temporäre Gemeinschaften und Spielräume produzieren. Utopische Räume mit anderen Zeitlichkeiten für die kommende Gemeinschaft.

Die Volksbühne war das einzige Stadttheater, das solche Formate schon früh erfunden hat. Wegweisend waren dort die Rollende Roadshow, die in Zirkuswagen Diskurs, Theater und Kunst in die Vororte von Berlin brachte und dort ganz neue Communitys erschloss. Eben das macht den Streit um die Zukunft der Volksbühne so kompliziert, dass die Volksbühne immer oder immer wieder so sehr am Puls der Zeit war und jetzt von falschen Freunden auf ein ganz normales Stadttheater reduziert wird.

Nein, es sollte nicht um Imperatoren gehen in dieser Debatte, sondern um kuratorische Konzepte, die das Theater seiner Repräsentationsfunktion partiell entheben, seine Funktionen erweitern und einen Kunst-Lebens-Diskursraum schaffen, der sich tief in unsere internationalen Stadtgesellschaften hineingräbt. Wir sollten nachdenken über das Theater der Zukunft.

© SZ vom 07.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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