Jette Steckel macht sich Sorgen. So wie jeden vernünftigen Menschen, der sich zu tief in die Mediendüsternis begibt, wo die herrschenden Geister entfesselter Macht schreien, plagt sie die Angst um den Zustand der Welt. Und weil sie eine Theaterregisseurin mit gewachsenem Ansehen ist, wird Steckel von einigen der mächtigsten Intendantinnen und Intendanten regelmäßig gebeten, große Texte als politische Kommentare auf die Gegenwart aufzuführen. Zuletzt beschrieb sie die moderne Verrohung mit den "10 Geboten" in Berlin. Oder sie interpretierte in Wien am Burgtheater Ibsens Drama über die Zerstörung der Umwelt aus Karrierekalkül, "Ein Volksfeind", was vor allem wegen seiner riesigen mobilen Gartenzwerge in Erinnerung blieb, die hier als Titanen siegreicher Kleingeistigkeit herumkurvten.
Vielleicht steckt auch in Shakespeares letztem Stück "Der Sturm" eine Portion Fatalismus über den Zustand einer Welt, in der Vertrauen und Einsicht nichts mehr zählen und bedingungsloses Machtstreben die glücklichen Schafe vermehrt, anstatt sie aufzuschrecken. Aber es steckt soviel mehr in diesem Märchen an Magie und Feinsinn, an verführerischer Schläue und Menschenkenntnis. Auf Prosperos Insel, wo ein unzivilisierter Eingeborener und ein Luftgeist die Gesellschaft des fürstlichen Zauberers und seiner liebreizenden Tochter Miranda bilden, werden Herrschaftsbeziehungen fein und weise beschrieben. Und das ist das Gegenteil von apokalyptischen Gesinnungspredigten, selbst von denen in bester Absicht.
Deswegen muss man zu Beginn erst einmal feststellen, dass Jette Steckels Neuinszenierung des "Sturm" am Hamburger Thalia Theater mit dem Drama gleichen Namens nichts Charakteristisches mehr gemein hat, nur noch die Rollennamen. Steckels Thema ist das grassierende Schlechte, und das will sie ihrem Publikum mit den schematischen Mitteln eines Rock-Musicals veranschaulichen, wie es zur Hochzeit der Anti-Atomkraft-Bewegung Mode war. Um über diesen Austausch des Inhalts keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, wurde kurz vor der Premiere immerhin ein Untertitel mit Bleistift auf das Programmheft geschrieben, der aus einem Leonard Cohen-Stück stammt und den klingenden Fatalismus von Jette Steckels Absicht in eine klare Botschaft fasst: "A Lullaby for Suffering", also: Schlaflied für das Leiden.
In diesem Sinne sind die folgenden zwei Stunden ein Suhlen in Pessimismus und Baden in Klagen. Schon das dreistöckige giftgelbe Haus von Jette Steckels treuem Bühnenbildner Florian Lösche sagt, was hier Sache ist. Die zwölf Würfelboxen, die vor allem dem ermüdenden Herumturnen der Akteure dienen, sind als Buchstaben gestaltet, die den Satz ergeben: "Europe is lost". Statt Shakespeare zu erinnern, müssen die Schauspieler in dieser Gummizellenwelt vor allem unbeholfene Botschaftsgymnastik veranstalten: als im Koksrausch zappelnde Wirtschaftszyniker mit Masturbationszwang, Obdachlose mit Pappschild, auf dem "Welcome to the real world" steht, oder als blonde Dummchen, die eine gute Partie abkriegen wollen.
Geleitet vom Kapellmeister Prospero, den Barbara Nüsse als grau gewordene Pumuckl-Gestalt noch mit dem Maximum der hier erlaubten Würde gibt, werden alle Figuren zu Karikaturen, alle Shakespeare-Texte durch irgendwelche trivialen Gegenwartssprüche ersetzt, während die Hauptlast der Beweisführung auf Kate Tempest abgewälzt wird. Die Songtexte der britischen Polit-Performerin, die als Künstlernamen Shakespeares Original-Stücktitel "The Tempest" verwendet, dominieren diese dystopische Revue. Mit ihren aggressiven Beschreibungen einer stumpfen Gesellschaft und ihrer böswilligen Führer, deren Hit-Version "Europe is Lost" heißt, versorgt Kate Tempest Jette Steckel mit dem Textmaterial für diesen Defätismus-Rap mit stark deutschem Akzent. Denn die Weltuntergangssprache an diesem Abend ist Englisch, und das beherrscht kaum einer der Darstellerinnen und Darsteller annähernd Netflix-reif.
Natürlich will Jette Steckel aufrütteln, will dem Publikum eine Zivilisation drastisch vor Augen führen, die ihren destruktiven Irrsinn ständig verdrängt, und die deshalb Kate Tempests zynischem Schlachtruf "Stop Crying, Start Buying!" folgt: Hört auf zu weinen, fangt an zu kaufen! Aber in dieser klagenden, humorlosen und wenig konstruktiven Manier wirkt die Übertragung von englischer Wut auf deutsches Stadttheater im Kern vor allem larmoyant und parolenhaft. Die interessante Botschaft für die Gegenwart ist doch nicht, wie schlecht die Welt ist, sondern: Was tust du dagegen? Und zu dieser Frage sagt Shakespeares klug komponiertes Strategie-Märchen mit Happy End tatsächlich viel mehr als Jette Steckels sehr deutscher Empörungs-Rap, der sich in lauter Ohnmacht ergibt.