Es gibt Texte, die der Zeit trotzen, zäh, unbeirrbar. Womöglich müssen solche Werke so schlicht und luzide gebaut sein wie "Warten auf Godot", das von wenig mehr erzählt als von zwei Typen, die eine Verabredung verpassen und die Zeit mit obskuren Späßen totschlagen. Der Beckett ist nachträglich in Stefan Bachmanns Kölner Schauspielprogramm gelangt, als pandemiebedingter Notnagel sozusagen. Und siehe da, der olle Klassiker fluppt und wuppt und wiedererweckt die Freude am Theater - dabei ist (fast) alles anders jetzt.
Jan Bosses Inszenierung dreht das Haus einmal um die eigene Achse. Wir Zuschauer sitzen auf der einstigen Spielfläche; die vier Darsteller sowie eine formidable Schlagzeugerin haben sich auf der Tribüne verteilt, deren rote Sitze mit nummerierten Laken bedeckt sind. Wladimir (Peter Knaack) und Estragon (Jörg Ratjen) schälen sich aus ihren bizarren Steppmänteln, darunter sieht es kaum besser aus. Die Laune ist mäßig. "Lauschiges Plätzchen", findet Estragon. Dann knallt das Schlagzeug los (Carolina Bigge), das hier auch den berühmten Godot-Baum verkörpert.
Knaack, schmaler Typ mit Hütchen und Latschen, hält verzweifelt die Hoffnung am Leben; aber worauf? Ratjen im Leopardenfell kriegt die Zähne kaum auseinander, macht aber doch knirschend mit. "Gehen wir. / Wir können nicht. / Warum nicht? / Wir warten auf Godot": Das Stereotyp, in das Beckett die beiden Außenseiter presst, wird bedient, aber ohne Pathos, auch ohne sich nur selbstreferenziell auf die Theater-im-Theater-Situation zu verlassen. Stattdessen blüht der Humor, zudem eine zarte Philanthropie, die der Text enthält, aber nur preisgibt, wenn man die Figuren so genau befragt, wie Bosse es tut.
Mehr braucht das Theater nicht, um daran zu erinnern, dass es unentbehrlich ist
Dann tritt jenes sonderbare Gespann auf, Pozzo und Lucky, Grundbesitzer und Gepäckträger. Auch hier eine Gratwanderung zwischen Rollentradition und subtiler Verfremdung. Bruno Cathomas persifliert das Gehabe des Mächtigen, des Trump-förmigen Narzissten zunächst fast schamlos, um im zweiten Akt, wenn Pozzo erblindet ist, den Absturz in die erzwungene Demut umso schärfer hervorzukehren. Justus Maier, unter eine Kühlbox geduckt, zitternd vor den Hieben einer imaginären Peitsche, nobilitiert Luckys "Tanzen" und "Denken" zu einer furiosen Ein-Mann-Show. Was für eine perfide Erfindung: Der "Intellektuelle", der alles gelesen und nichts verdaut hat, scheint sich in der Aporie eines abgehalfterten Herrschaftsverhältnisses am Ende fast wohl zu fühlen: als einsamer Artist in der Zirkuskuppel.
Vier Schauspieler, denen man auch länger als zwei Stunden zusehen könnte, die witzigen Kostüme von Kathrin Plath, die zündende Musik, einen großartigen Text, eine Spielidee und natürlich den vielzitierten leeren Raum - mehr braucht das Theater nicht, um daran zu erinnern, dass es unentbehrlich ist: zu Beginn einer neuen Saison, die sich fast anfühlt wie eine erste.
Dem intimen Zirkel von Eingeweihten, der sich am folgenden Abend im kleineren Depot 2 einfand (gespielt wird immer noch im Ausweichquartier in Mülheim), um sich dort mundschutzbewehrt um eine Arenabühne zu scharen, ward freilich ein gänzlich anderes Erlebnis beschert. Es gab Heinrich von Kleists selten gespielte "Hermannsschlacht", dargeboten von einem siebenköpfigen Ensemble, das sich die zahllosen Rollen des Dramas immer wieder teilt. Der kroatische Regisseur Oliver Frljić versteht die "Hermannsschlacht" als eindimensionales Germanenbashing, münzt noch den witzigsten Schlagabtausch in ein ödes Brüllduell um und verzichtet auf jegliche Psychologie.
Schließlich ist kaum eine ungeschicktere Strategie im Umgang mit dem Text denkbar, als die ohnehin verwirrenden Abläufe der Fabel durch permanente Rollenwechsel zu potenzieren: Das Publikum ist damit beschäftigt, sich dauernd zu fragen, wer gerade wen spielt, was ja nicht eben unerheblich ist, will man die Geschichte einigermaßen nachvollziehen.
Unterm Strich hat sich also doch nicht so viel geändert: Es gibt so ein Theater und so eins. Aber wie schön, dass endlich wieder gespielt wird, nicht nur in Köln.