Theater:Witz ohne Boden

Victor oder Die Kinder an der Macht; Victor oder Die Kinder an der Macht

Es könnte so bizarr sein - Mittelmaß-Theater mit Johannes Benecke (links) und Philipp Pleßmann.

(Foto: Martin Miseré)

Der Regisseur Moritz Sostmann inszeniert am Schauspiel Köln Roger Vitracs surreales Stück "Victor oder Die Kinder der Macht". Ein Bub stellt seine Eltern bloß - und mit ihnen die ganze Gesellschaft.

Von Martin Krumbholz

Wer Moritz Sostmanns Arbeiten am Schauspiel Köln verfolgt, wer insbesondere im letzten Herbst seine grandiose Norén-Inszenierung gesehen hat, der wartet an diesem Abend zwei Stunden darauf, dass der Regisseur die wunderbaren Figuren des Puppenbauers Hagen Tilp tanzen lässt. Es ist ein Warten auf Godot. Das surrealistische Salonstück "Victor oder Die Kinder an der Macht" von Roger Vitrac kommt (fast) ohne Puppen aus. Ich kann auch ohne, mag sich Sostmann gesagt haben. Das ist schade. Denn ohne erkennbare Not verleugnet der Regisseur seinen Markenkern, das Element, das seine Aufführungen so einzigartig macht im deutschen Theater.

Der Dramatiker Roger Vitrac (1899 bis 1952) war mit Artaud und Anouilh befreundet (Antonin Artaud hat "Victor" 1928 auch uraufgeführt), und Spurenelemente dieser beiden Antipoden des französischen Theaters im 20. Jahrhundert finden sich auch in der bizarren Geschichte der Kinder Victor und Esther, die den Aufstand gegen ihre Eltern proben: wütende Attacken gegen die Konvention, gegen (vermeintliche) Tabus - und das Ganze in einer soliden Dramaturgie mit superbem Dialogwitz. Nicht umsonst erlebte das freche Stück in den Jahren um 1968 eine Renaissance, bevor es wieder in der Versenkung verschwand.

Der Knabe Victor, der "schrecklich intelligent" und an seinem neunten Geburtstag schon einen Meter achtzig groß ist, widmet seine Geburtstagsparty in einen Überraschungsangriff gegen das Establishment um. Seinen verrückten "Schwiegervater", den Papa seiner kleinen Freundin Esther, bringt er beispielsweise dazu, aufs Stichwort den Schmerz der Niederlage von 1870/71 zu rekapitulieren - das Stück spielt, was nicht unwichtig ist, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, im Jahr 1912. Stets und mit Perfidie stellt das altkluge Kind die falschen, dekuvrierenden Fragen. Vor allem aber inszeniert es in einer Art Hamlet'scher "Mausefalle" die heimliche Liaison zwischen seinem selbstgefälligen Vater Charles und Esthers Mama Thérèse und stellt die Ehebrecher bloß. Die Eltern, immer nur darauf aus, den Schein zu wahren, sind den Attacken des Enfant terrible nicht gewachsen, am Ende finden sich einige Persönchen ins Jenseits befördert. Die Kinder gelangen nicht an die Macht - sie zersetzen und vernichten mit der bürgerlichen Fassade auch das dahinter gärende Leben.

Der Regisseur geht dieses aberwitzige Stück an, als wäre es eine Folge von Fragmenten

Vitrac schießt die bürgerliche Bastion höchst kunstvoll mit den Mitteln der Salonkomödie sturmreif, er steht in der Tradition eines Georges Feydeau. Sostmann macht jedoch einen folgenschweren Fehler: Er lässt sich auf den Boulevard nicht wirklich ein. Der Regisseur geht das Stück an, als wär's eine Folge von Fragmenten, von Nummern, von abstrakten Selbstüberbietungen. Doch der Witz zündet nur auf der vorher gefertigten Basis einer gewöhnlichen familiären Situation. Wenn auf einer leergeräumten Bühne ein Mann, als Frau verkleidet, auftritt und minutenlang lautstark furzt, ist das an sich nicht lustig. Komisch wird der Vorgang durch den Kontext: das verzweifelte und hoffnungslose Bemühen der Anwesenden, einen Anschein von Savoir- vivre zu wahren.

Vom bürgerlichen Salon sind in Köln nur drei überdimensionale rote Türen samt den dazugehörigen Angeln übrig geblieben (Ausstattung: Klemens Kühn). Später fläzt man sich auf Plastik-Luftsesseln, als sollte das Stück plötzlich in einem vage bezeichneten 1968 spielen. Die Kostüme wiederum sind eindeutig historisch; Sabine Orléans als Mutter Thérèse ist in eine den Körper umspannende, pinkfarbene Federboa gehüllt (samt Federboa-Hut), während ihr Liebhaber Charles weiße Spitzenunterwäsche trägt. Das alles sind atmosphärische Arabesken, die nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kern des Stücks, die Explosion der Norm, hier verfehlt wird. Schauspielerisch steckt der Abend im Mittelmaß fest. Selbst Johannes Benecke reizt als Victor nicht die ganze Aberwitz-Skala der Titelfigur aus.

Die schönste Szene ist die stillste. Die große Dame mit den Flatulenzen hat den plötzlich sanften Victor auf den Arm genommen. Und das schrecklich intelligente Kind hat eine Bildungslücke entdeckt: Es will aufgeklärt werden. Die Dame flüstert ihm etwas ins Ohr, und nachdem sie Victor abgesetzt hat, bedankt dieser sich höflich und sagt: "Aber Sie haben gelogen." Ein unscheinbares kleines Rätsel: Steckt der einzige Klartext vielleicht in einer unverständlichen Flüsteransage? Und wieso ist Victor, der Schlaumeier, so sicher, dass seine Aufklärungspatin die Unwahrheit sagt?

Kurz vor Schluss kommt doch noch eine einzige (wunderschöne) Puppe zur Ehre weniger eines Auftritts als einer Aufbahrung: Victor lebensgroß, mit einem riesengroßen weißen Schädel, in dem die ganze Macht der Subversion begraben liegt. Der Knabe ist an Bauchkrämpfen dahingeschieden. Das Experiment einer Vitrac-Wiederbelebung ist da schon längst gescheitert.

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