Theater:Wer ist schneller untreu, der Mann oder die Frau?

Lesezeit: 4 min

Schlüsselsexzene mit Puppenmännern: Mathilde Bundschuh, Nikolaus Habjan und, liegend, Arthur Klemt. (Foto: Thomas Dashuber)

Nicolaus Habjan inszeniert Pierre de Marivaux' "Streit" am Münchner Cuvilliéstheater als liebestrunkenes Puppenspiel.

Von Rudolf Neumaier

Am Ende liegen vier Puppen auf einem Haufen. Tot. Aber sie haben gelebt. Und wie sie gelebt haben! Kurz nur, ihr Leben fing ja erst mit zwanzig an, aber dafür lebten sie es umso eitler und naiver und kompromissloser. Zwei Frauen, zwei Männer, beim finalen Aufeinandertreffen liebkosen sie sich alle. Durcheinander, miteinander, zärtlich, wild. Sie kommen um beim Gruppenversöhnungssex, vor Glück, vor Erschöpfung. Die Guten gehen zuerst. Und die Liebe bleibt ein seltsames Spiel.

Wie dieses Spiel läuft, analysierte der französische Schriftsteller Pierre Carlet de Marivaux im Jahr 1744 mit seinem Theaterstück "La dispute", der Streit. Das Bayerische Staatsschauspiel hat es nun dem österreichischen Puppenspieler Nikolaus Habjan anvertraut. Im Münchner Cuvilliéstheater führt Habjan auf, wie er sich das Spiel der Liebe vorstellen könnte: Am schönsten wäre es doch, wenn alle mit allen bis zum Orgasmus kuscheln könnten, wenn sich jeder Anflug von Missgunst und Neid im Austausch körperlicher Zärtlichkeiten auflösen könnte. In einer Menage-à-plusieurs - welche Utopie. Er führt nicht nur die Tugend vor, sondern alle, die Treue und Untreue aus seiner Sicht zu ernst nehmen. Inklusive Monsieur Marivaux.

Der Puppenspieler Habjan, 30, macht Furore auf den deutschen Bühnen. Im vergangenen Sommer inszenierte er mit seinen Puppen, die er selbst entwirft und gestaltet, die Weber-Oper "Oberon" im Münchner Nationaltheater, eine verrückte Sache. Im Wiener Volkstheater führte er bei Lessings "Nathan" Regie. Ein Fabelstück wie Marivaux' "Streit" ist bei ihm und seinen Puppen bestens aufgehoben. In München haben sie in Oliver Nägele, Mathilde Bundschuh und Arthur Klemt Schauspieler vorgefunden, die sich selbstlos der Anstrengung ausliefern, die Puppen zum Leben zu bringen. Für seine eigenen Puppenrollen hat Habjan gleich eine Zweitbesetzung inszeniert - er muss weiterziehen.

Die Figuren haben keine Beine und, wenn man's genau nimmt, auch kein Geschlechtsorgan. Ihre Augen sind starr, die meisten Puppen können nicht einmal die Kiefer bewegen. Sie haben nicht viel mehr Ausdrucksmöglichkeiten, als Arme, Hände und Kopf zu bewegen. Aber es funktioniert: Mit minimalen Bewegungen der Gliedmaßen stellen Habjan und seine Mitspieler die größten Gefühle dar. Die Figuren lächeln und weinen und schmachten und flirten mit den Unterarmen und mit der Kopfhaltung. Und natürlich durch die Stimmen ihrer Spieler. Was für die Zuschauer, die ihre erste Habjan-Produktion sehen, wie ein Experiment wirken mag, wird zu einem Theaterereignis.

Patrice Chéreaus "La dispute"-Deutung wurde 1973 in Frankreich als Jahrhundert-Inszenierung gefeiert - ähnlich übrigens wie der Bayreuther "Ring des Nibelungen" desselben Regisseurs drei Jahre später in Deutschland. In München nun wirkt Marivaux' Stück wie für Puppen gemacht. Und für das Cuvilliéstheater. Es beginnt mit einem Prinzen und seiner Freundin, die sich darüber streiten, wer die Untreue in die Welt gebracht habe, die Frau oder der Mann. Bei dieser Frage schon schlägt der Zeiger auf der Zotenalarm-Skala eigentlich aus. Marivaux aber gibt sich aufklärerisch und ziemlich nüchtern. Der Prinz bringt seine Freundin auf eine Aussichtswarte, von der aus sie gemeinsam die Verhaltensbiologie des Menschen studieren wollen: Der Vater des Prinzen hat vor 20 Jahren sechs Babys, je drei männliche und drei weibliche, von der Welt separiert und getrennt voneinander von einem Wärterpärchen aufziehen lassen. Nur die Wärter werden von Menschen gespielt, die Versuchspersonen von Puppen. Nun werden sie paarweise aufeinander losgelassen. Homunkulus trifft Homunkula. Was passiert wohl?

Wer zu lange über Tugendfragen brütet, endet wie Hermiane - sie ist eine verhärmte Schrulle

Die von Jakob Brossmann und Denise Heschl gebaute Bühne ist ein Anatomie-Hörsaal. Das Experiment hat klassische Vorlesungslänge: 90 Minuten. Dieser Hörsaal wird zur Manege: Das erste Paar, Eglé und Azor, wird aufeinander losgelassen und es verknallt sich. War ja klar. Ebenso Paar zwei, Adine und Mesrin. Die Mädels turteln und zicken wie beim schönsten Pubertätskindergeburtstag.

Dann aber treffen die beiden Männer aufeinander. Bei Marivaux und in allen Aufführungen, die es in die theatergeschichtliche Literatur geschafft haben, versichern sich Azor und Mesrin gegenseitig, sie hätten in Fragen der Liebe und Zärtlichkeit nichts miteinander zu schaffen. Sie könnten aber Freunde sein. Homosexualität? Gibt es hier noch nicht.

Diese beiden Männer erleben nun gemeinsam den bebendsten Orgasmus, den man sich vorstellen kann. Szenenapplaus. Es ist eine Männersex-Nummer, die vom Zeichner Ralf König geklaut sein könnte. König hat schwule Erotik in die Comics und mit der Verfilmung von "Der bewegte Mann" auch ins Kino gebracht. In Nikolaus Habjans "Streit" ist es eine Schlüsselszene: Alles kann, nichts muss, und solange Menschen ihre Multisexualität naiv und rein leben, behalten sie ihre Unschuld. Einen "Me Too"-Kommentar schenkt sich Habjan, dazu muss nicht auch noch das Puppentheater positionieren.

Der Bühnenmusiker Kyrre Kvam lässt ein Mozart-Motiv anklingen, als alle vier Versuchspuppen gemeinsam auf der Bühne erscheinen: die Orchesterbegleitung des wunderschönen Abschiedsterzetts "Soave sia il vento" aus der Oper "Così fan tutte" - auch ein großes Bühnenliebesspiel. Kvam singt im "Streit" Liebeslyrik, unter anderem Louise Labés Sonett "O wär ich doch entrückt an ihn, gepresst an seine Brust, für den ich mich verzehre". Seine Musik aber untermalt die Laboratmosphäre. Wenn Habjan, Nägele, Bundschuh und Klemt ihre Puppen um- und am Ende auseinanderbauen, wird der Hörsaal zum Sektionssaal der Pathologie.

Wer also ist schneller untreu, der Mann oder die Frau? Mit dieser Frage halten sich nur der Prinz und seine Gefährtin Hermiane auf. Wozu das führt, sieht man an Hermianes Gesicht: Habjan hat sie als verhärmte Schrulle gestaltet.

Was er von der bei Marivaux propagierten Tugend hält, führt er am dritten Versuchspärchen vor, das im Stück die Moral von der Geschicht' verkündet. Die zwei sind strebsam, sittsam, treu: "Wir haben an uns selbst genug." Doch sie bleiben so tot, dass sie's nicht mal auf die Besetzungsliste des Programmheftes schaffen. Nikolaus Habjan lässt sie vom Schnürboden kommen, ihr Text wird aufgesagt - bewegt werden diese Puppen nicht. Leblos wie sie kamen, schweben sie wieder ab. Die anderen vier aber, die beim Lieben starben, werden seziert. Das ist bei ungewöhnlichen Todesfällen üblich. Der Seziertisch mit ihren Einzelteilen fährt ab in die Katakomben der pathologischen Anstalt. Helles, warmes Licht empfängt sie.

© SZ vom 15.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: