Süddeutsche Zeitung

Theater:Was heißt hier Opfer?

Mohammad al Attar zeigt in Tempelhof mit einer syrischen "Iphigenie" die erste Schauspielpremiere der Volksbühne unter Chris Dercon.

Von Mounia Meiborg

Endlich Ruhe. Sieben Tage lang war die Berliner Volksbühne besetzt, bis das Haus am Donnerstag geräumt wurde. Jetzt bewacht ein Sicherheitsdienst das Gebäude. Ein Grüppchen von Aktivisten macht auf der Wiese vor dem Theater weiter Programm. Die Proben im Haus werden dadurch nicht gestört.

Alles in Ordnung also? Nicht ganz. Die letzten Tage haben viel Hass hochgespült. Längst überwunden geglaubte Feindbilder wurden reaktiviert: Ost gegen West. Hoch- gegen Popkultur. Diejenigen, die sich einen missglückten Start der neuen Volksbühne um Chris Dercon gewünscht haben, können sich freuen: So viel Aufmerksamkeit wie die Besetzung wird die gelungenste Premiere nicht bekommen. Und eine halb gelungene erst recht nicht. Auf dem stillgelegten Flughafen Tempelhof fand sie statt, die erste Schauspielpremiere unter Dercon.

Riesig ist der Hangar 5, in dem einst Flugzeuge parkten. An einer Seite ist eine Zuschauertribüne aufgebaut, davor eine weiße Insel, die als Bühne dient. Der Rest bleibt leer. Mohammad Al Attar, einer der bekanntesten syrischen Theaterautoren, und der Regisseur Omar Abusaada zeigen hier "Iphigenie". Es ist der dritte Teil eines Antikenprojekts, das sie vor vier Jahren in Jordanien begonnen haben. "Die Troerinnen" zeigten sie dort, ein Jahr später in Beirut "Antigone in Shatila". Auf der Bühne standen geflüchtete syrische Frauen, Laiendarstellerinnen, die die antike Tragödie mit ihrer eigenen verknüpften und sich allem Anschein nach selbst spielten.

Die Trilogie in Berlin zu beenden ist eine schöne Idee. Die Stadt ist zum Zielpunkt vieler Syrer geworden, für manche auch zum Sehnsuchtsort. Und der Flughafen Tempelhof machte als "größte Notunterkunft Deutschlands" Schlagzeilen. Mehr als 2000 Menschen waren zwischenzeitlich in den benachbarten Hangars untergebracht. Heute sind es noch 300. Wenn man Tempelhof bespielen will, macht es Sinn, an diese Realität anzudocken.

Der Abend hat nur ein Problem: Seine antike Vorlage will einfach nicht passen. Neun junge Frauen kommen zu einem Casting für ein Theaterprojekt. Gespielt werden soll Euripides' "Iphigenie". Und so befragt die Regisseurin eine Bewerberin nach der anderen nach ihren biografischen Parallelen zur Figur. Iphigenie, die sich opfert - für den Vater, fürs Vaterland - steht hier jungen Frauen gegenüber, die viel verloren haben. Nur geopfert haben sie sich nicht. Zum Glück.

Die Geschichten berühren. Das Reden über das Theater stört eher

Das Setting ist kühl, fast klinisch. Hinten, am Ende der weißen Bühneninsel, sitzen die Bewerberinnen aufgereiht. Einzeln treten sie nach vorne und setzen sich auf einen Stuhl. Die Regisseurin filmt sie. Im Close-up sind ihre Gesichter auf einer großen Leinwand zu sehen.

Da ist zum Beispiel Nour Bou Ghawi, mit roter Lockenmähne und Lippenpiercing, die zu spät kommt und sich breitbeinig in den Stuhl fläzt. Verwirrt ist sie nicht nur von Jobcenter und Ausländerbehörde, sondern auch von einem Mann, der nach fünf Jahren plötzlich wieder auftaucht. Da ist die nervöse Rahaf Salama, die über Skype mit ihrer Therapeutin spricht. "Ich bin es leid, Angst zu haben", sagt sie und meint damit wohl mehr als das Casting. Da ist Layla Shandi, die vor Selbstbewusstsein strotzt und von Liebe träumt. Und da ist Zina El Abdullah, die ein Messer zückt, als sie eine Selbstmordszene improvisieren soll. Seit ihrer Zeit im Flüchtlingslager trägt sie es immer bei sich - falls der braune Gürtel im Kickboxen mal nicht reichen sollte.

Lauter wunderschöne, starke, kluge Frauen. Und sie haben - fast alle sind Laiendarstellerinnen - eine erstaunliche Bühnenpräsenz. Ihre Geschichten berühren, gerade in ihrer Alltäglichkeit. Dramatische Bootsüberfahrten und Folterszenen sucht man hier vergebens. Es geht um Einsamkeit und Freiheit, Liebe und Familie. Das Gerede über Theater stört da eher. Zumal viele Floskeln dabei sind. "Ich habe das Gefühl, da ist diese tief gehende Beziehung zwischen mir und der Bühne" ,heißt es da. Oder: "Im Theater kann ich jemand anderes sein als ich selbst."

Überhaupt, die Sprache: Gespielt wird in syrischem Dialekt, mit deutschen und englischen Übertiteln. Die Übersetzung klingt dabei manchmal kitschiger als das Original. Die Szenen, welche die Bewerberinnen aus "Iphigenie" spielen, werden dagegen in schönstem Hocharabisch gesprochen, samt korrekter Nunation. Eine ferne Welt, schon sprachlich. Auch diese Chorszenen bleiben aber seltsam körperlos. Die Darstellerinnen sind nur auf der Leinwand zu sehen. Die physische Präsenz eines Chores, die in der riesigen Halle große Wirkung haben könnte, bleibt ungenutzt. Der stark hallende Raum hält eigentlich nur Nachteile bereit. Als auch noch die Übertitelung ausfällt, muss unterbrochen werden. Nur vier Vorstellungen werden in Tempelhof gespielt, im neuen Jahr soll das Stück am Rosa-Luxemburg-Platz zu sehen sein. Wozu also der Aufwand?

Das Stück folgt einer Nummerndramaturgie, die an keiner Stelle aufgebrochen wird: die Nächste, bitte. Was dem Ganzen Tiefe verleihen könnte, wäre eine Figurenentwicklung. Doch die fehlt. Die Regisseurin, die Einzige, die in jeder Szene auftritt, bleibt blass. Stattdessen gibt es Momentaufnahmen. Und am Ende die Einsicht, dass das Leiden weitergeht - in einem neuen Land, bei anderen Frauen.

"Die Geschichten müssen raus", heißt es einmal. Tatsächlich macht das, was man "Empowerment" nennt, wohl die größte Stärke des Abends aus. Alle Erwartungen des Kulturbetriebs können die Darstellerinnen nicht erfüllen. Aber das ist wirklich nicht ihr Problem.

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Quelle:
SZ vom 02.10.2017
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