Philippe Quesne ist ein Zauberer. Seit 2003 - damals rief er in Paris das Vivarium Studio ins Leben - erschafft er eigene Welten auf der Bühne. Das Erschaffen hat er gelernt, er studierte bildende Kunst. Ähnlich wie jeder beim Betrachten eines guten Bildes etwas Anderes sieht, nimmt jeder Zuschauer von Quesnes besten Arbeiten etwas Anderes wahr. In seinen Inszenierungen wird nicht viel gesprochen, eher gar nicht, Menschen finden sich in einer Natur wieder, in der sie meist stören, oft leben dort Maulwürfe, die liebt Quesne.
Anfang 2016 machte er einen ersten Ausflug an die Münchner Kammerspiele und versuchte, mit Mitgliedern des Ensembles eine Art Lagerfeuerwestern in Bildern von Caspar David Friedrich zu kreieren. Das Unterfangen scheiterte. Nun kehrte er zurück und erfand "Farm Fatale", mit drei Schauspielern des Hauses, Julia Riedler, Stefan Merki und Damian Rebgetz, dazu brachte er zwei seiner Leute mit, Léo Gobin und Gaëtan Vourc`h. Diesmal glückte es. "Farm fatale" in der Spielhalle der Kammerspiele ist, obwohl durchaus zielgerichtet, viel näher an der assoziativen Kraft der Vivarium-Arbeiten, als es der Western war. Und es ist eine echte Kammerspiel-Produktion, auch weil man nicht umhinkann, sich kurz an Inszenierungen von Susanne Kennedy zu erinnern.
Die Fünf auf der Bühne sind Vogelscheuchen. Sie tragen abgelegte Kleider, am Ende der Arme und Beine schaut Stroh heraus, die Köpfe sind verwachsene Masken, unter denen die Stimmen hervorkommen, als sprächen Elefantenmenschen. Für Quesne-Verhältnisse wird recht viel gesprochen, meist auf Englisch und eben verzerrt, so dass man das Meiste nicht versteht. Die Vogelscheuchen erzählen von den Bauern, bei denen sie früher gearbeitet haben und die nun alle tot sind. Die meisten haben sich umgebracht, weil die industrialisierte Landwirtschaft ihre Betriebe vernichtete, Glyphosat überall war, auch in den Bauern, nur die genetisch modifizierten Superkühe überlebten und die Insekten starben.
Wer wird sich denn durch das Vernichtungsgedöns die Laune verderben lassen?
Nun sammeln die Vogelscheuchen mit einem Mikro, das an einer Mistgabel befestigt ist, und einem kleinen Kassettenrekorder die Stimmen der letzten Vögel aufnimmt, machen damit Radiosendungen und spielen Musik, eine Art Neofolk, was drollig ausschaut, wenn Vogelscheuchen dies tun und dabei auf Strohballen sitzen. Die Vogelscheuche, die Julia Riedler ist, hält dann den Bass in der Hand wie ein freundliches Tier, das ihr zugelaufen ist.
Einer der Fünf ist ein Aktivist, der zu den anderen stieß, weil er ihre Sendung hörte und mitmachen will. Das freut die anderen und sie wackeln lustig mit den Armen. Dann finden sie die letzte Bienenkönigin, Margrit, eine Schweizerin, die nur Schweizerdeutsch versteht, weshalb die Vogelscheuche, in der der Schweizer Stefan Merki steckt, dolmetschen muss.
Das ist alles ein herrlicher Unsinn, die Fünf machen viel Bienenquatsch - "Let it Bee" -, wie überhaupt eine eigentümliche Fröhlichkeit herrscht, obwohl wir uns ja eigentlich in einer menschenleeren Apokalypse befinden. Aber die Vogelscheuchen geben Hoffnung, finden ein leuchtendes Ei, das zu ihrer Sammlung leuchtender Eier passt, die sie in einem haushohen Wagen horten und mit denen sie, reichlich umständlich, am Ende hinausziehen in eine Welt, die es vielleicht gar nicht mehr gibt, in der aber etwas Neues entstehen kann.
Am Tag zuvor hatte an den Kammerspielen Stefan Puchers Adaption von Virginie Despentes' Romantrilogie "Das Leben des Vernon Subutex" Premiere. Auch wenn dies eine Koinzidenz ist, so kann, ja sollte man vielleicht sogar, die beiden Abende zusammenhängend begreifen. Pucher lässt seinen Abgesang auf Rock'n'Roll und das wilde Leben in harter, hoffnungsloser Didaktik enden, aus der mit Hilfe der Musik noch eine letzte Utopie herauskriecht, die bis ins Jahr 2100 hält. Quesnes Vogelscheuchen, so könnte man sich das vorstellen, leben noch viel später, auch sie machen Musik und haben keineswegs die Hoffnung verloren. Sie sind sehr liebevoll, und auch wenn sie nur Strohpuppen sind, so zeigen sie doch, dass das ganze Vernichtungsgedöns bei Despentes einem nicht die Laune verhageln muss, auch wenn alles zugrunde geht.