Theater:Verschwendet euch!

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Der isländische Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson schafft große Inszenierungen mit komplexen Zeichensystemen. Im Herbst geht er als Schauspieldirektor an die Berliner Volksbühne. Ein Porträt.

Von Till Briegleb

Er joggt auf die Bühne, flüstert Darstellern etwas ins Ohr, deutet ein paar bessere Bewegungen an, spricht freundlich zu den Technikern. Vier Stunden Bedeutungssport. Es ist die Probe zu dem Stück "Im Irrgarten des Wissens" am Theater Dortmund, an diesem Samstag ist Premiere. Der isländische Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson komponiert viele unfertige Versatzstücke für diesen sechsstündigen Abend, ist geduldig, zugewandt, verbreitet keinerlei Stress. Kein Anflug von Ärger oder Kommissgebrüll. "Letztlich ist der Regisseur der Diener des Schauspielers", sagt er später in einem winzigen Edel-Coffeeshop in Dortmunds trister Fußgängerzone. Das habe er von seiner Mutter gelernt, Thorhildur Thorleifsdottir, einer berühmten Regisseurin in Island.

Vom Schauspiel Dortmund wird Arnarsson als "Regie-Shootingstar" angekündigt. Das liegt sicherlich daran, dass er Anfang April zur allgemeinen Überraschung zum neuen Schauspieldirektor der Berliner Volksbühne ab der kommenden Spielzeit berufen wurde. "Shootingstar" und "Diener des Schauspielers" - das klingt in Personalunion heutzutage ein wenig kurios. Mit der Promi-Vokabel werden eigentlich nur noch Konzeptregisseure bezeichnet, deren Schauspieler dem überwältigenden Kunstanspruch am Regiepult ergeben dienen müssen.

Als Regisseur, der Schauspielern "eine Bahn bauen" will, damit sie "ihr ganzes Potenzial ausbreiten", wie der 40-Jährige es als die Seele seiner Produktionsarbeit benennt, wird man dagegen kaum noch zum Shootingstar. Das war mal so in der alten Zeit vor der Wende, als Schauspielerinnen und Schauspieler noch selbst der Glanz der Bühne waren - und nicht Ausführende, über die vielleicht ein Halbsatz in der Kritik steht. Ist Thorleifur Örn Arnarsson also der Vorbote einer Gegenreformation, die zurückstrebt zum psychologischen Als-ob-Theater?

Keine Spur. Diese Sternschnuppe will auf ihrer Kreisbahn sogar drei Universen verbinden. Und hat dafür große Vorbilder. "Frank Castorf und ich sind ästhetisch völlig unterschiedlich", sagt Arnarsson in Hinblick auf die drohenden Vergleiche, wenn er als neuer künstlerischer Leiter im September mit einer "Odyssee" die Volksbühne eröffnet. "Aber wir finden uns beide wieder in einem collagehaften Denken, das die Welt als eine Mischung aus Politik, Ökonomie und Märchen betrachtet." Und für die es eben auch mal sechs Stunden braucht, möchte man hinzufügen.

Arnarsson ist ein Denker, der das Theater als Hort der "schönen Ineffizienz" feiert

Vielleicht am vollendetsten gelungen ist dem dienenden Konzeptregisseur dieses Collagieren in seiner "Edda" am Schauspiel Hannover. Den isländischen Mythenstoff, der sich von Wagner bis zu den "Avengers" in die Weltkultur verzweigt hat, inszenierte Arnarsson als bizarre Symbolwelt. Archaische Motive illustrierte er opernhaft und düster, Karikaturen von Superhelden zerlegten frech das Pathos der Götteraura. Und schließlich feierte ein Monsterkabinett die moderne Wiederkehr des Heidentums im Warenfetisch, während eine intime Geschichte erzählt wurde über Armut, enttäuschte Hoffnungen und Erlösungssehnsucht von einem Mann, der vom Sozialisten zu den Zeugen Jehovas und schließlich zum Odin-Jünger konvertierte.

Es geht um alles, um Babel, um den Zustand der modernen Welt: Szene aus dem "Irrgarten des Wissens". Premiere ist am Samstag in Dortmund. (Foto: Birgit Hupfeld)

Die sehr aufwendige Inszenierung, die noch bis Juni in Hannover und danach in Berlin im Repertoire zu sehen ist, handelt also im Hintergrund von Strukturen der Macht in ihren verschlüsselten Formen. Und das reflektiert ziemlich gut die temperamentvolle Zeitanalyse des Regisseurs. Arnarsson ist ein sprechender Denker, der es liebt, "bis in die Morgenröte" große Themen zu diskutieren.

Energisch, aber immer freundlich redet er dann von der gespaltenen Gesellschaft und der verlorenen Würde im Neoliberalismus, über die Ursachen des Populismus, die Unterschicht, die ihren Schutz und ihre politischen Vertreter verloren hat, die Finanzfreibeuter und Konzerne, die keine Steuern mehr zahlen. Arnarsson hat Wirtschaftsblätter abonniert, zitiert Thomas Piketty und Didier Eribon und ist der Meinung, dass es nach wie vor die ökonomische "Fehlverteilung der Güter" ist, die unsere sozialen, ökologischen und politischen Verwerfungen erzeugt - und nicht eine Identitätspolitik, die sich in persönlichen Befindlichkeiten heißläuft.

Ganz anders, wenn er über das Theater spricht. Eine "unklare" Kunst der Widersprüche will er schaffen, komplexe Zeichensysteme, "weil das unsere Gegenwart wahrhaftiger abbildet" als ein Thesentheater. Die Bühne, speziell die Berliner Volksbühne, müsse deswegen ein Hort der "schönen Ineffizienz" bleiben, so Arnarsson. Diese barocke Philosophie der Verschwendung und der "totalen künstlerischen Freiheit" flammt immer wieder auf, wenn er über die Zukunft seiner neuen "Heimat" am Rosa-Luxemburg-Platz spricht.

Für die nächsten zwei Jahre hat ihn der Interimsintendant Klaus Dörr verpflichtet, für drei große Inszenierungen und als dialogfähigen Künstlergeist in der Leitung. Als solcher will Arnarsson die verlorene Seele des Hauses reanimieren, die seit Max Reinhardt und vor allem Erwin Piscator existiert. "Die Geschichte der Volksbühne ist eine von Künstlern, die dort eine Freiheit vorfanden, sich zum absoluten Ausdruck zu bringen", sagt Thor, wie er von allen genannt wird. Diesen kompromisslosen Freiraum will er jetzt wieder etablieren, für sich und die anderen Regisseurinnen und Regisseure: Lucia Bihler, Kay Voges, dem Noch-Intendanten in Dortmund, für Stefan Pucher, Claudia Bauer, David Marton und Hans-Werner Kroesinger, die mit einem neu geformten Ensemble "die Batterie des Hauses aufladen" sollen.

Dass andere dafür sorgen müssen, dass die "schöne Ineffizienz" der Volksbühne trotzdem effizient finanziert und gesteuert wird, ist ihm bewusst. Er liest ja die Wirtschaftspresse. Und ist trotzdem heilfroh, dass er von allen administrativen Pflichten befreit ist. Dafür hat er nicht nur die Stelle als Hausregisseur am Münchner Residenztheater abgesagt. Auch vor Intendanzangeboten aus Island und Norwegen nahm er Abstand, weil in ihm die Skepsis anschwoll, ob man als verantwortungsbewusster Theaterleiter wirklich noch zu großer Kunst fähig ist.

Energisch, aber immer freundlich: der Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson bei der Arbeit. (Foto: Katrin Ribbe)

Und Thorleifur Örn Arnarsson, geboren 1978 in Reykjavík, ist ein sehr verantwortungsbewusstes Theatertier. Das machen schon die Gene. Sein Vater, der Schauspieler Arnar Jónsson, ist in Island eine Legende. Seine Mutter brachte ihm die Grundregeln des Regieführens bei, als er noch als Statist, Requisiteur und Bühnenarbeiter, später als Schauspieler und Sänger Islands Theater als alternative Lebenswelt erfuhr. Seine Schwester Sólveig Arnarsdóttir ist als Schauspielerin regelmäßig im deutschen Fernsehen zu sehen. Sie war es, die ihm zu seinem ästhetischen Erweckungserlebnis verhalf. Anfang der Nullerjahre nahm sie den kleinen Bruder mit zu Christoph Marthalers Inszenierung "Murx den Europäer!" in die Volksbühne. "Dass das möglich ist", staunte Thor.

Der "Irrgarten des Wissens" in Dortmund soll eine große Parade des Nachdenkens werden

Er bewarb sich für ein Regiestudium an der Ernst-Busch-Schule in Berlin, um der Volksbühne nahe zu sein, sah alles von Castorf, Marthaler, Schlingensief. Nach dem Ende seines Regiestudiums 2009 musste er seine Sehnsucht nach dem "absoluten Ausdruck" aber zunächst den begrenzten Möglichkeiten kleiner Stadttheater anpassen. Von Konstanz und Mainz kam er über Wiesbaden und Bonn nach Hannover und Basel, wo er kürzlich Schillers "Räuber" inszenierte. Arnarsson entfaltete sich auf diesem Weg zum Komponisten des intellektuellen Spektakels.

Da muss natürlich irgendwann eine Stufe erklommen werden, die "Im Irrgarten des Wissens" heißt, wie jetzt in Dortmund. Eine große Parade des ständigen Nachdenkens soll es werden, übertragen ins Spiel. Gemeinsam mit seinem langjährigen Text-Kompagnon Mikael Torfason wurde recherchiert und getextet, aber auch in Workshops das Wissen des Ensembles abgefragt, denn jeder im Haus macht an diesem Abend mit, auch mit den eigenen Erinnerungen. Und so geht es im Labyrinth der Spieler, auf der Bühne und im restlichen Haus um Kolumbus, Mario Götze, Malcom X und Buddha, aber auch um Kopernikus, Sophie Scholl und Eddie the Eagle, und natürlich auch um Marx, Jesus und Einstein. Dazu wird es viel Musik geben, rituelle Tänze, den Soundtrack von "Herr der Ringe", auch Gagarin und Bugs Bunny treten auf. Es geht um Babel, also den Zustand der modernen Welt. Beim Probenbesuch eine Woche vor der Premiere ist das Ziel noch verschwommen. Aber Politik, Ökonomie und Märchen sind schon überall.

Zwei Tage später regnet es plötzlich auf die Bühne des frisch renovierten Dortmunder Schauspielhauses. Dachschaden. Man ist hier buchstäblich nicht ganz dicht. Doch davon lässt sich ein Thor nicht erschüttern. Dann wird eben improvisiert, sagt er. Es bleibt bei der Premiere an diesem Samstag. Und am Montag beginnen dann schon die Proben zur "Odyssee", zum Abenteuer Volksbühne. "Totale Kunst", "schöne Ineffizienz" und freies Schauspiel sind die Sirenen dieser Reise. Da dient man gerne als Zuschauer.

© SZ vom 24.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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