Süddeutsche Zeitung

Theater:Verdammtes Jahrhundert

Bei "Spielart" offenbaren sich Menschen, und man schaut ihnen fasziniert zu

Von Egbert Tholl

Wahrscheinlich stammt die bekannteste Version des Liedes von der Band Tears for Fears. "Mad World" durchzieht hier den ganzen Abend, als Melodierelikt, zunächst gespielt von Elsie de Brauw auf einem kleinen Keyboard. Ja, die Welt ist wahnsinnig geworden, und dort, wo es bis vor Kurzem ganz besonders wahnsinnig zuging, hat Milo Rau Theater gemacht. Besser gesagt, einen Film gedreht, in Mossul, wo der IS ein Kalifat errichtet hatte. Tausende starben, erst unter der religiösen Terrorherrschaft, dann bei der Rückeroberung der Stadt. Was Milo Rau dort drehte, ist Teil seines Theaterabends "Orest in Mossul", den das "Spielart"-Festival zusammen mit den Münchner Kammerspielen im Schauspielhaus präsentierte.

Vom Dach eines ehemaligen Kaufhauses, wo man in früheren Zeiten alles bekam, auch westlichen Luxus, geht der Blick über eine kaum endende, menschenleere Trümmerlandschaft. Der IS warf von diesem Dach Homosexuelle in den Tod. Das sieht man im Film. Auf der Bühne erzählt einer der Schauspieler vom NT Gent, dass ihm ein befreundeter Kriegsreporter zur Vorbereitung auf den Dreh Filmmaterial gegeben hat. 100 Stunden Hinrichtungen. Der IS tötete irakische Soldaten, ließ Frauen öffentlich erdrosseln.

In der "Orestie" wird Iphigenie geopfert, damit die Götter den Wind schicken, der die griechische Flotte nach Troja bringen soll. Damit sie die Stadt zerstören können. Wie Mossul. Das ist der Konnex: Milo Rau bringt, live und mittels des Films, die "Orestie" auf die Bühne, die antike Saga von Rache, Mord, Zerstörung. Und er verknüpft sie mit der Geschichte des Iraks und speziell der von Mossul. Mossul ist Troja, Troja ist Mossul. Beide Städte sind zerstört. Der Schauspieler fragt sich: Warum töten Menschen?

"Orest in Mossul" ist zu klug, um einem nicht nahezugehen. Natürlich, in seiner perfekten Bauweise ist der Abend auch höchst manipulativ. Aber muss Theater nicht manipulativ sein, um Wirkung erzeugen zu können? Wieder hört man "Mad World", gespielt von irakischen Musikern vor den Trümmern einer Kunstschule.

Milo Raus Produktion ist eine der großen, international tourenden, die bei "Spielart" zu sehen sind. Wie stets stellt das Festival solche Abende neben kleine, feine - und lässt den Zuschauer auch mal allein. Allein mit einem Video von Mats Staub etwa. Seit Jahren nimmt der Schweizer Künstler Videos auf, in denen Menschen erzählen, wie ihr Leben war, als sie 21 Jahre alt waren. "Erinnerungen ans Erwachsenwerden" ist aber auch eine Spiegelung: Im Video sieht man Menschen, die den eigenen Aussagen, die Staub zuvor aufgenommen hat, zuhören. Manche lauschen der eigenen Geschichte wie der eines Fremden, andere lachen, weinen, schütteln den Kopf.

Im Ägyptischen Museum sieht man Menschen aus Afrika, Amerika, Europa. Frau Krcunović war 1999 21 Jahre alt, sie lebte in Belgrad, und Belgrad wurde bombardiert. Sie hört zu, wie sie erzählt, dass Bomben auf Theater fielen, dass sie lernte, Explosionen zu unterscheiden. Sie erzählt, dass sie es vorziehe, ein Kind zu bleiben, muss bei ihren eigenen Worten lachen. Sie wollte nicht erwachsen werden. Mit 21 sei sie, trotz dem, was sie umgab, optimistisch gewesen. Jetzt sei sie manchmal traurig. Und halt erwachsen.

Wie bei den Zweiergesprächen über Geburt und Tod, die Staub im Rahmen bei "Spielart" in der Lothringer 13 zeigte, verblüfft die Offenheit, mit der die Menschen berichten. Eine Frau erzählt, dass sie damals, betäubt durch K.-o.-Tropfen, in Amsterdam vergewaltigt wurde. Einer erzählt von LSD-Trips, von denen ein Kumpel nicht mehr runterkam und sich umbrachte. Es gibt eine Liebe zum Mathe-Lehrer, Bürgerkrieg in Kinshasa. Immer wieder Krieg, der zieht sich durch das ganze Festival. Verdammtes Jahrhundert.

Man kann sich "sein" Jahr suchen, es gibt mehr als 20 Videostationen mit je fünf Filmen, die Altersspanne reicht von 1939 - also Geburtsjahr 1918 - bis jetzt, seit 2012 zeichnet Staub auf, ein, zwei Jahre wird er noch weitermachen; immer dort, wo er seine Arbeit präsentiert, sammelt er auch neues Material. Bald werden also auch Münchnerinnen und Münchner dabei sein.

Zu Beginn des Festivals gab es einen kleinen Trick, wie man gerade die langen Wochenendtage mit fünf, sechs Aufführungen hintereinander gut durchhalten konnte: Man ging zum Teppichweben. In der Lothringer 13 saßen die unendlich freundlichen Mitglieder der Wiener Performance-Truppe God's Entertainment und woben unter Anleitung der bosnischen Künstlerin Ifeta einen Teppich, einen Ćlim. Der Besucher wurde eingeladen mitzuweben, auf jeden Fall bekam man einen sensationellen Kaffee und der Teppich wuchs, ein Abbild der deutschen Flagge. Später konnte man dann im Bellevue die Monaco sehen, was es mit dem Teppich auf sich hatte.

Man fuhr auf Rollen unter dem Teppich herum und konnte da unten lesen, hören und sehen, was gern "unter den Teppich" gekehrt wird: der Arbeiterstrich in München, Nationalismus. Mal kamen unliebsame Bücher in die Mülltonne, daneben sah man den Wandel eines Münchner Hauses. 1971 lebten darin viele Ausländer und freuten sich, in München Geld verdienen zu können. Heute klagen die ausschließlich deutschen Bewohner, dass alles so teuer geworden sei.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2019
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