Nicht allen geht es gut. Selbst heute, selbst bei uns, in der besten aller Wohlstandsgesellschaften, gibt es sie zuhauf: Menschen wie die Wingfields aus Tennessee Williams' Stück "Die Glasmenagerie", die in prekären Verhältnissen, in Unsicherheit und Armut leben, immer in der Hoffnung, dass es besser werden, immer in der Angst, dass es schlechter kommen könnte. Die Wingfields gehören im Amerika der Dreißigerjahre in St. Louis zu den Verlierern einer Gesellschaft, deren Mittelklasse sich zersetzt und deren soziales Gefälle immer krasser wird, während sich ihre Träume zerschlagen. Ihr Drama ist kein katastrophales, sondern ein ganz leises, normales. Es erzählt davon, wie fragil Lebensentwürfe sind, wie sie Risse bekommen und irgendwann zerbrechen. Ohne dass es dafür einen großen Schlag bräuchte. So wie das Einhorn aus Lauras titelgebender Glassammlung beim Tanzen kaputtgeht. Einfach so. Keine große Sache. Und doch: ein Weltuntergang.
Vor jedem Essen grüßt die tapfere Restfamilie ein Foto des davongelaufenen Vaters
Ob Stephan Kimmig dieses doch recht angestaubte Symbolstück aus dem Jahr 1944 - Williams' autobiografisch gefärbter Erstling - aus diesem Grund am Deutschen Theater Berlin inszeniert hat? Um von den Rissen, die der Autor mit psychologischem Südstaaten-Realismus aufzeigt, feine Erkenntnislinien ins Heute zu ziehen? Schwer zu sagen, denn mit Interpretationen, Aktualisierungen und Erklärungen hält sich der Regisseur zurück. Vielmehr setzt er auf Atmosphärisches, auf Stimmungen und Schwingungen - und auf das formidable Schauspieler-Quartett, das aus diesem unspektakulären, stellenweise etwas öden Familiendrama einen sehenswerten Theaterabend macht. Dass die Inszenierung stilistisch schwankt und den Schauspielern sichtlich viele Impro-Freiheiten und Eigenarten lässt, muss man ihr letztlich als Plus anrechnen. So konventionell küchenrealistisch der Abend daherkommt - er hat seine Verrücktheiten und komischen Ausreißer und verlangt manchmal ein bisschen Hingucker-Geduld. Da gibt es Zeitdehnungen, wie eigentlich nur noch das Theater sie zulässt (und aushält). Konfektionsware ist das nicht.
Tennessee Williams hat sein Stück als ein "Spiel der Erinnerung" konzipiert, umso zulässiger sind szenische Unausgegorenheiten. Es ist Tom Wingfield, der Sohn, der sich dem Publikum als "nostalgischer" Erzähler vorstellt und mit dessen Augen man gleichsam auf die Familiengeschichte der Wingfields zurückblickt. Der Vater, verewigt auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie, ist schon vor Jahren auf und davon. Vor jedem Essen grüßt ihn die Restfamilie, bestehend aus Tom, seiner leicht gehbehinderten Schwester Laura und der alles bestimmenden Mutterglucke Amanda, trotzdem mit einem gebetsartigen Händeschüttel-Ritual: "Daddy, wir haben dich lieb!"
Wunderbar linkisch, erotisch, exzentrisch: Linn Reusse als Laura Wingfield.
(Foto: Arno Declair)Daddys Aufgaben als Familienernährer wurden an Tom delegiert, der seinen Malocher-Job in der Schuhfabrik noch mehr hasst als die Durchhalteparolen der Mutter. Heimlich schreibt er Gedichte. Marcel Kohler spielt ihn mit schnaubender Intensität, hin- und hergerissen zwischen Verantwortungsbewusstsein und dem Drang, wegzulaufen, abzuhauen in ein anderes Leben. Weg von dieser Über-Mutter, die sich ihm wie ein Mädchen auf den Schoß hockt und täglich ihre dynamischen Coaching-Ansagen macht: "Morgenstund hat Gold im Mund". Oder: "Wir müssen alles tun, uns aufzubauen!"
Anja Schneider (vormals Protagonistin bei Armin Petras am Berliner Gorki-Theater und am Schauspiel Stuttgart, nun neu im DT-Ensemble) ist eine Schau in dieser Rolle: hochtourige Dampfwalze, Nervensäge und Ever-young-Blondine in dauerplappernder Übergriffigkeit. Kindisch, komisch, kokett bis an die Grenze zur Überzogenheit oder besser: Überlebensübermütigkeit - aber doch auch durchlässig für den Schmerz, die Sorge, die Einsamkeit dieser Frau. Immer wieder träumt sie sich in die eigene Jugend zurück, als 17 Verehrer gleichzeitig um sie warben. Einen Pferdeschwanz trägt sie immer noch.
Die Bühne von Katja Haß zeigt eine Art Wohnkontor von industriellem Charme, eine Mischung aus kalter Fabrikhalle und gammeliger Familienunterkunft, im Grundton so grün wie die Patina, die das Vierzigerjahre-Stück angesetzt zu haben scheint. Die Nähmaschinen-Arbeitsplätze linkerhand lassen an einen Sweatshop denken. Garderobenständer mit frisch fabrizierter Kleidung stehen herum. Die Außenseiterin Laura, ein Mädchen mit dicken Brillengläsern, Schlabberlook und der Unschulds-Aura von Björk in Lars von Triers Film "Dancer in the Dark", hat einen eigenen Nähmaschinenplatz rechts an der Wand. Wenn sie alleine ist, legt sie eine Schallplatte aus Papas zurückgelassener Sammlung auf - die gut ausgewählten Songs sind aus Kimmigs eigener Playlist -, und dann tanzt sie. Und wie sie tanzt! So wunderbar linkisch-erotisch-exzentrisch und ganz und gar bei sich, dass Linn Reusse dafür Szenenapplaus bekommt. Ohnehin ist es faszinierend, ihrer Laura zuzusehen: wie sie buchstäblich ihr eigenes Ding macht. Im Scheinwerferlicht der Arbeitslampe lässt sie manchmal selbstvergessen ihre Glastierchen schweben. Und ab und zu holt sie sich als Zuschauer ein lebendes Huhn auf den Tisch - sie hält zwei wahre Prachtexemplare in einem Verschlag.
Fast boulevardesk komisch und slapstick-grell wird es nach der Pause, wenn Tom seinen Arbeitskollegen Jim O'Connor als möglichen Bräutigam für Laura mit nach Hause bringt. Herrlich die Aufregung der Mutter, die sich in lächerlicher Jungmädchen-Aufmachung dem Mann an den Hals wirft! Und es ist von zarter Komik, wie Laura sich vor diesem Jim nach und nach ihrer Scheu und ihres Fummels entkleidet. Holger Stockhaus ist aber auch ein Charmebolzen erster Güte, ein Typ mit ansteckender Zukunftszuversicht, und ein grandioser Entertainer ist er noch dazu. Wie er Laura in pantomimisch-sängerischer A-cappella-Bestform ein ganzes Jazzkonzert vorjammt, ist zum Niederknien. Umso trauriger, dass aus den beiden nichts wird, dass auch dieser Traum zerplatzt. Jim ist schon vergeben und verdrückt sich wieder.
Das ist alles. Mehr passiert nicht an dem Abend. Er hat seine Durstmomente gehabt. Und doch muss man das Theater dafür lieben. Weil es auf die Kraft seiner Schauspieler vertraut. Und weil es sich Zeit nimmt, Menschen in die Seele zu blicken.