Süddeutsche Zeitung

"Der Idiot" am Deutschen Theater Berlin und am Hamburger Thalia Theater:Behauptung mit Gebrüll

Sebastian Hartmanns eitle Interpretation von Dostojewskis "Der Idiot" am Deutschen Theater in Berlin lässt einen ratlos zurück. Warum nur betreibt der Regisseur diese alberne Zerstörung des Romans? Den inszeniert auch Johan Simons in Hamburg. Allerdings ganz anders.

Von Till Briegleb

Was wäre das Neue Testament ohne Jesus, Fußball ohne Ball, eine Perlenkette ohne Schnur? Das gleiche wie Dostojewskis "Idiot" ohne Fürst Myschkin. Eine Versammlung orientierungsloser Elemente, denen der gemeinsame Bezugspunkt fehlt. Warum also einen so berühmten Roman für die Bühne adaptieren, wenn man ihm die Hauptfigur raubt, und damit jeden persönlichen Bezug, jeden möglichen Dialog, jeden Halt an einem konkreten Charakter, der seit 150 Jahren die Leser fesselt? Wozu vier Stunden Theater unter der Überschrift "Der Idiot, nach Fjodor Dostojewskij" inszenieren und dem Publikum zumuten, wenn einen die drei wesentlichen Komponenten eines erzählenden Romans überhaupt nicht interessieren: die Menschen, die Handlung, die Sprache?

Hier gibt es keine Figuren, keine Zusammenhänge und keine Geschichte

Diese Fragen hat man viel Zeit sich zu stellen in dem Behauptungsgebrüll, das Sebastian Hartmann am Deutschen Theater in Berlin als seine "Interpretation" von Dostojewski aufführt. Hier gibt es keine Figuren, keine Zusammenhänge und keine Geschichte. Hier gibt es nur eine Parade der hechelnden Soloauftritte von Hartmanns Lieblingsschauspielerinnen und -schauspielern, die sehr ausgedehnt und von kindischen Aktionen begleitet Sätze sprechen, die immerhin überwiegend aus dem Roman stammen - dort aber selten beieinander stehen. Vor allem im ersten der drei Teile kommt man nicht umhin zu fragen, ob Sebastian Hartmann den Roman nicht gelesen, nicht verstanden, oder nur aus dem Aktenvernichter neu zusammengeklebt hat?

Zwischen zwei großen Indianerzelten, eins mit und eins ohne Haut, sowie dem rot gestrichenen Fassadenteil eines klassizistischen Hauses mit Erker (Bühne vom Regisseur) bewegen sich da Leute in Kostümen im Stil des 19. Jahrhunderts von Adriana Braga Peretzki, die ohne Rücksicht auf die Struktur oder den Ablauf des Originals Satzfetzen von irgendwelchen Figuren des Romans unverständig und bezugslos daherquatschen. Der reflexartige Versuch des sinnsuchenden Menschen, in den acht Erscheinungen irgendwelche Szenen oder Personen zu identifizieren, muss auch mit ganz frischer Re-Lektüre des Buches misslingen, weil der Regisseur es gar nicht will.

Später wird Linda Pöppel nackt und mit Theaterblut übergossen zappelnd unter die Decke gehängt, wo sie mit sportlich bewundernswerter Ausdauer hunderte verhackstückte Zitate aus den verschiedensten Mündern des Romans hervorstößt, die sich irgendwann sehr spät immerhin zu einem Thema verdichten: der Unfähigkeit zu lieben. Niklas Wetzel tobt sich im akzentgetränkten Schnellsprech vor einer assoziativ vollgeschriebenen Wand mit Romanbezügen in einer Inhaltsangabe aus, die es aber auch nur bis Seite 438 von 935 schafft, bevor er ins Miauen verfällt. Und ganz zum Schluss spricht Ruth Reinecke steif im goldenen Glitzerkleid immerhin mal eine einzige Sequenz von Dostojewski zusammenhängend, die Geschichte des armen Bauermädchens Marie ganz vom Anfang des Buches, die Myschkin erzählt, um erstmals anzudeuten, dass Liebe und Mitleid bei ihm nahezu dasselbe sind. Danach darf das Ensemble mit Pistolen über die Bühne laufen und 127 Platzpatronen abfeuern.

Nun gab es vor ein paar Wochen am Hamburger Thalia Theater eine gänzlich andere Übertragung des Romans auf die Bühne, die zeigte, was Sebastian Hartmann in seiner eitlen Selbstdarstellung als Totalzerstörer von Literaturkonventionen wahrscheinlich als abschreckendes Beispiel zitieren würde. Johan Simons ultrabiedere Nacherzählung des Stoffes, die auf inszenierende Eingriffe und eine thesenhaften Regiehaltung vollständig verzichtete. Jens Harzer als Fürst Myschkin und Felix Knopp als sein Gegenpart Rogoschin vollführten dort ihren von Philosophie und Leidenschaften erregten Hahnenkampf um Nastassja Filippowna (Marina Galic), von dem "Der Idiot" im Kern handelt, in vergleichbarer Dauer als psychologische Präzisionsstudie.

Unter 25 nackten Glühbirnen und auf einem Boden voller Mehl, die Johannes Schütz' ganzes Bühnenbild ausmachten, schuf Simons eine ans Filmische grenzende Aufführung von ambitioniertem Einfühlungstheater, die sich in ihrer nostalgischen Manier einer anständigen Figurenarbeit allerdings etwas altbacken anfühlte. Diese früher spöttisch "Reclam-Theater" genannte getreue Wiedergabe einer Vorlage, die hier Dank bester deutscher Schauspielkunst die Illusion des vollkommenen Eintauchens in den Stoff erlaubte, vermisste jede Reibung an Gegenwartsbezügen oder aktuellen Themen.

Mit größter Herablassung so zu tun, als wäre der Regisseur schlauer als Dostojewski, verkennt vollkommen die einfachste Einsicht des Romanlesenden

Aber sie vermied in ihrer hochprofessionellen Bescheidenheit wenigstens die auftrumpfende Attitüde, die Sebastian Hartmann in seiner albernen Roman-Zerstörung betreibt und im Programmheft dann als "Gewitter" erklärt, das "hinter die Oberfläche der Realität" leuchte. Mit größter Herablassung so zu tun, als wäre der Regisseur schlauer als Dostojewski und müsse dessen "Themen" subtrahieren, indem er acht "Idioten" auf die Bühne stellt, die unverständliches Zeug reden, verkennt vollkommen die erste und einfachste Einsicht des Romanlesenden. Dass Fürst Myschkin nicht im geringsten ein Idiot ist. Und deswegen auch nicht diese idiotische Belehrung durch einen selbsterklärten Perlensucher verdient hat, der zwischen den angeblichen "Plattitüden" des Romans das Wesentlich hervorzupulen meint - um diese "Fundstücke" dann als vierstündigen epileptischen Anfall zu inszenieren. Das ist Fallsucht eines Regisseurs.

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