Ist es wirklich der Wunsch nach Überlegenheit, der staatliche Gebilde aufrechterhält, wie Zygmunt Bauman es in seinem letzten wichtigen Buch "Retrotopia" ausführt? Ist die einstige Bildung und der aktuelle Zerfall Europas demselben Gefühl geschuldet, besser sein zu wollen als andere? Nur dass der europäische Staatenverbund den Menschen früher die Hoffnung gab, zusammen ein neues glänzendes Zentrum der Welt bilden zu können, das moderner und mächtiger wird als andere Supermächte, wogegen heute die alten nationalen Unformen wieder attraktiver erscheinen, um Nachbarn und Fremde einzuschüchtern. Oder gibt es doch noch Neugier auf den anderen, Zutrauen in die Freiheit und echte Freude durch Solidarität in den Menschen, um den Klebstoff des europäischen Gedankens damit anzurühren, wie Falk Richter es zu behaupten wagt?
Es geht also über zwei Stunden um die Bedrohung glücklicher Vielfalt und um das Recht, seine Identität selbst zu bestimmen.
"I am Europe" heißt sein trotziges Projekt der Gemeinschaftsbildung, das er 2014 als Workshop in Straßburg begann und jetzt zu einem internationalen Reiseprojekt verdichtet hat, das zum Ende der Lessingtage am Hamburger Thalia-Theater dort Deutschlandpremiere hatte. Junge Schauspieler mit grenzüberschreitenden Biografien suchen die Spuren des "Europäischen" in ihren Lebenswegen und Beziehungen für ein Mosaik der Appelle. Die "Kroatin" erzählt vom Balkankrieg, um unter Tränen zu erklären, warum sie sich weiterhin als Jugoslawin fühlt. Junge Männer mit portugiesischem, arabischem und belgischem Kulturhintergrund in Frankreich diskutieren erregt ihre Beteiligung an den Gelbwestenprotesten unter dem Gesichtspunkt, ob man als schwuler Mann mit Rechtsdenkenden gemeinsam für eine gerechte Sache marschieren kann.
Es geht um den lodernden Hass im angeblich völkerverbindenden Social-Media-Kosmos und um langlebige soziale Traumata, die das Massaker der Pariser Polizei 1961 an algerischen Demonstranten ausgelöst hat. Es geht um eine familiäre Verbindung zu Fernando Pessoa, mit der sich eine Schweizerin Mut für die Familiengründung mit zwei schwulen Männern macht, oder um absurde Manöver, die eine Kulturförderbürokratie bei Künstlern erzwingt, indem sie nur Gelder an Projekte vergibt, die ihre "rassische" Diversität nachweisen können. Es geht also über zwei Stunden um die Bedrohung glücklicher Vielfalt und um das Recht, seine Identität selbst zu bestimmen.
Eigentlich ist dieser Abend eine weitere Variante von Falk Richters Theater der Dichotomien, das er in diversen Projekten seit seinen Anfängen in den Neunzigern konstruiert hat, und das ihn mittlerweile zum gepriesenen Vertreter einer libertären Moral werden ließ (so erhält er dieser Tage für sein "emanzipatorisches Wirken" in den darstellenden Künsten auf der Berlinale den "Teddy" für "queere" Kultur-Perspektiven). In diesem Theater der scharfen Gegensätze projiziert Richter stets ein Tableau des Schreckens aus plakativen Bildern von Politikern, Polizeigewalt, Protest und Personenschäden, um die Fantasie schädlicher Macht zu erwecken. Diese gleichgeschalteten Motive kontert er dann mit dem verletzlichen, suchenden und dem Guten verpflichteten Individuum im Kampf gegen die Ohnmacht. Im Resultat vermittelt Richters Gezeitenspiel aus Optimismus und Pessimismus dann stets den Appell für eine bessere Welt der vielen Identitäten im freien Austausch.
In der Vielzahl ähnlicher politischer Projekte des Gegenwartstheaters, die über ihr starkes Anliegen hinaus kaum künstlerischen Mehrwert entfalten, ist "I am Europe" aber doch eines der besseren. Die aus Geschichten der Schauspieler und Richters Texten zur Weltlage geschaffene Collage formuliert ihre Dringlichkeit erstaunlich kitsch- und klischeefrei. Das Ensemble spielt virtuos mit falschen kulturellen Zuschreibungen und versteckten Ressentiments, zeigt humorvolle Leichtigkeit in den vielen Diskussionen, wie politisches und persönliches Engagement im Namen der Menschlichkeit zu entwickeln sei. Und wie in jeder guten Collage ergibt das Gesamtbild aus unspektakulären Einzelteilen ein eindrückliches Gesamtbild, in diesem Fall die Idee von einer europäischen Gesellschaft des Respekts, wo Scham und Angst fehlen.
Doch diese Utopie der herzlichen Vielfalt schien Falk Richter als Resümee dann doch zu optimistisch. So endet dieser Abend mit einem klischeehaften Pessimismusgesang über das Sterben der Bienen und Menschen im Europa der wirtschaftlichen Gier und der politischen Komplizenschaft. Der Schrecken scheint der zarten Hoffnung als Grand Finale eben doch deutlich überlegen zu sein. Vielleicht sagt das auch was darüber aus, warum es uns heute so schwer fällt, das Unspektakuläre eines friedlichen Miteinanders als politische Agenda zu behaupten.