Süddeutsche Zeitung

Theater:Stressblues in Japan

Zen oder die Kunst, in Fernost eine deutsche Familie zu zerlegen: Die geglückte Uraufführung von Nis-Momme Stockmanns "Das Imperium des Schönen" in Stuttgart.

Von Jürgen Berger

Bei all unseren mehrfach verschlungenen Erwerbsbiografien kann es heutzutage durchaus vorkommen, dass eine Bäckereifachverkäuferin nebenbei Philosophie studiert und Schopenhauers berühmte Maxime zitiert, all unser Streben entspringe dem Mangel und sei somit Leiden. Maja jedenfalls macht das ganz selbstverständlich und ist auch ansonsten diskursiv sattelfest. Im Moment sitzt sie in einem Appartement in Tokio fest und liefert sich Redeschlachten mit Falk, dem Bruder ihres neuen Lebenspartners. Falk hat das Paar zum sündhaft teuren Japanurlaub eingeladen. Was Maja vor Antritt des Bildungsurlaubs nicht wissen konnte: Ihr Schwager in spe ist nicht nur Philosophieprofessor, sondern auch ein mittels Geld und Wissen manipulierender Machtmensch. Der Leitwolf lenkt, seine Frau Adriana denkt sich ihren Teil und versucht zu beschwichtigen, während die Söhne Ignaz und Ismael die Tour ins Innere japanischer Tempel mit Kurzreferaten unterfüttern. Wikipedia-Monster, die wie siamesische Aliens daherkommen. Und Bruder Matze? Der war immer ein Fähnchen im Windschatten des großen Bruders und wäre das wohl auch für den Rest seines Lebens, hätte er nicht Maja getroffen.

Nis-Momme Stockmanns Erwerbsbiografie als Autor reicht bis ins Jahr 2009 zurück. Damals wurde er mit "Der Mann der die Welt aß" schlagartig bekannt und beschäftigte sich auch in der Folge vor allem mit seiner Herkunft von der Nordseeinsel Föhr. Als es dann plötzlich still um ihn wurde, ahnte man, dass er an einem langen Text sitzt. Vor drei Jahren gab es mit "Der Fuchs" dann Stockmanns hoch gelobtes Romandebüt, und es hätte gut sein können, dass er das Fach wechselt. Jetzt allerdings meldet er sich mit einem ausgefeilten Konversationsstück zurück und überrascht insofern, als "Das Imperium des Schönen" stilistisch weit von dem entfernt ist, was er zu Beginn seiner Karriere geschrieben hat. Das ist kein Textflächen-Stück, sondern der dialogischen Schreibkunst einer Yasmina Reza verpflichtet. Und den Familienausflug in die Fremde einer vom Shintoismus, dem Zen-Buddhismus und Konfuzianismus geprägten Kultur kann man auch als Reflexion über die Sollbruchstellen der deutschen Gesellschaft lesen, in der Schichten und Milieus sich immer fremder gegenüberstehen.

Diesen kühlen Text der starken Emotionen sollte man genau so spielen, wie er da steht. Eingriffe in die Logik von Stockmanns Suspense-Dramaturgie bis hin zum Zusammenbruch eines familiären Gefüges, so der Eindruck, sind eher unangebracht. Vielleicht war das der Grund für eine Verschiebung der Uraufführung. Die neue Mannschaft des Stuttgarter Staatsschauspiels rund um Burkhard C. Kosminski, den ehemaligen Intendanten des Mannheimer Nationaltheaters, hat letzten Herbst einen gefeierten Neustart hingelegt und setzt auf ein Programm mit klassisch gebauten Theatertexten. Mitte Januar sollte "Das Imperium des Schönen" folgen, kurz vor der Premiere gab es aber einen Regiewechsel. Ursprünglich verantwortlich war Pinar Karabulut, die unter anderem am Münchner Volkstheater und an den Kammerspielen gearbeitet hat. Als neue Regisseurin verpflichtet wurde Tina Lanik, die in den letzten Jahren vor allem am Münchner Residenztheater inszenierte. Der Grund für den Wechsel waren "künstlerische Differenzen". Fragt man heute nach, heißt es, Autor und Regisseurin hätten keine Einigkeit über die Strichfassung des Textes erzielen können. Schuldzuweisungen seien allerdings unangebracht.

Nun ist also ausgerechnet diese Konversationsparabel über eine konfliktreiche Reisegruppe ein weiteres Beispiel dafür, dass auch auf dem langen Weg vom Schreiben eines Theatertextes bis hin zur Uraufführung Kommunikationsprobleme auftreten können. Wie dem auch sei. Tina Lanik ist innerhalb kurzer Zeit eine pure und schlüssige Inszenierung gelungen. Gespielt wird auf einer leeren Bühne mit Stühlen am Rande. Da sitzen die Schauspielerinnen und Schauspieler, die gerade nicht auf dem argumentativen Schlachtfeld agieren. Unterfüttert ist das Wellmade-Labor mit verspielten Einschüben bis hin zu choreografisch anmutenden Umsetzungen emotional anstrengender Situationen. Nina Siewert und Martin Bruchmann etwa schlängeln einen Stressblues an die Rückwand der Bühne und zeigen, warum es in unglücklichen Menschenkonstellationen kein glückliches Bewusstsein geben kann. Da können Maja und Matze sich noch so winden und ein intime Blase des Vertrauens bilden wollen, dem Zwangsregiment des dominanten Bruders entkommen sie nur, wenn der irgendwann die entscheidende rote Linie überschreitet und Maja ohrfeigt. Erst dann bezieht Matze Stellung, dem Martin Bruchmann ansonsten das Ungefähre eines vom Leben überforderten Nesthäkchens gibt.

Ganz anders positioniert Marco Massafra den Falk. Da ist jede Geste ein Wille hin zu einer Welt nach der Vorstellung des gewieften Rhetorikers. Dumm nur, dass da jetzt Maja ist, aus der Nina Siewert eine selbstbewusste Frau macht, die den familiären Kampfhirsch mit dessen Mitteln stellt. Manchmal steht sie nach einer Falk-Attacke getroffen in der Mitte des Raumes, nach kurzer Verschnaufpause beißt sie aber immer wieder zurück. Sie kennt diesen Mann, schließlich hat sie eines seiner Schopenhauer-Seminare besucht. In Japan stellt sich nun die Frage, ob man mit deutscher Gedankenschwere in Fernost weiterkommt. Schließlich, so Falk in einem Vortrag, stehe eines der zentralen ästhetischen Konzepte der japanischen Kultur, das Yūgen, für Gefühle oder Stimmungen in Kunstwerken. Und die würden im Gegensatz zu europäischer Kunst "gerade nicht eine Aussage oder einen reproduzierbaren Leitspruch" in sich tragen. Die japanische Kunst bewege sich mittels Yūgen "problemfrei im Spannungsfeld zwischen Oberfläche und Aussage". Am Ende von "Das Imperium des Schönen" sieht es wohl so aus, dass Schopenhauer in Japan eher fehl am Platz ist. Oder anders gesagt: Mach erst mal deine Hausaufgaben, bevor du in die Fremde schweifst, ansonsten ergeht es dir wie Falk. Du kommst alleine nach Deutschland zurück.

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Quelle:
SZ vom 04.02.2019
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