Theater:Selbstausbeutung

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Doppelabend am Theater Freiburg: "Die sieben Todsünden/Motherland" mischt Zeitgenössisches aus Ungarn mit Brecht und Weill.

Von Jürgen Berger

Häusliche Gewalt kann auch so aussehen. Eine Mutter will unbedingt, dass ihre Tochter als Model Geld verdient und sich ganz nebenbei einen Millionär angelt. Das Kind ist noch nicht mal zehn, aber schon so indoktriniert, dass es ganz selbstverständlich an die Logik des schnellen Gelderwerbs unter Ausbeutung des eigenen Körper glaubt. Da sind aber auch diese Schmerzen: Das Waxing, die Botox-Spritzen und die Frage, ob man die Nase richten lassen sollte, damit das Gesicht nicht so "ethnisch rüberkommt" wie das des Vaters.

"Motherland" nennt die ungarische Autorin Kata Wéber ihre so kurze wie erbarmungslose Catwalk-Etude, die nun in Freiburg durch den ungarischen Regisseur Kornél Mundruczó uraufgeführt wurde. Mundruczó, der als Autorenfilmer in Cannes genauso zuhause ist wie auf den großen deutschsprachigen Bühnen, verschneidet Wébers Text mit "Die sieben Todsünden", dem "Ballett mit Gesang" von Kurt Weill und Bertolt Brecht, urchoreografiert 1933 von Georges Balanchine in Paris.

Darin gibt es ein dialektisch verschlungenes Schwesternpaar, ausgestattet mit "einer Vergangenheit und einer Zukunft, einem Herz und einem Sparkassenbuch". Sie sollen Geld für den Familienclan ranschaffen, damit man sich ein schönes Haus an den Ufern des Mississippi leisten kann. Anna 1 ist die Künstlerinnenware, die verkauft sein will, Anna 2 die Managerin des Geldflusses. Ihre Tour durch die Kabaretts, Varietétheater und Filmstudios von Memphis bis Los Angeles ist gespickt mit Wortspielen, die sich der Frage widmen, welche Todsünden man sich als Künstlerin einfangen kann.

Mutter und Tochter sind in dieser Inszenierung zwei kampfstarke Amazonen

Zuerst einmal sind allerdings Nora Buzalka und Sinja Neumann als gefährliche Mutterkrähe und nicht unbedingt harmloses Tochterküken unterwegs. Buzalka ist eine jener Mütter, die ganz sanftmütig quälen, die zehnjährige Neumann hält mit einer schrillen Diskant-Stimme dagegen. Mundruczó inszeniert sie als gleichermaßen kampfstarke Amazonen. Sie machen ein Haus unsicher, das anscheinend realitätsgetreu vom Mississippi nach Freiburg transportiert wurde (Bühne: Márton Ágh, Kornél Mundruczó) und mit seiner Plüschästhetik signalisiert, dass bis jetzt noch kein Millionär in die Familie investiert hat. Dazu ist das Wohnzimmer zu schäbig, die Küche zu sehr Stückwerk und das Bad im ersten Obergeschoss zu abgenutzt.

Wechselt der Doppelabend rüber zu den "Die sieben Todsünden", ändert sich die musikalische Atmosphäre. Asher Goldschmidt komponierte für "Motherland" einen im Hintergrund schwingenden Soundtrack, Kurt Weills Mix aus Operetten-Zitaten, Jazz-Anspielungen und A capella-Partien ist ein mit Stilbrüchen jonglierendes Gesamtkunstwerk und Nora Buzalka jetzt eine stumme Anna 1, die sich den Qualen eines Künstlerinnenlebens bisweilen auch etwas melodramatisch hingibt. Die Frau im Hamsterrad der Selbstoptimierung nutzt das Interieur des Mississippi-Häuschens wie einen Fitnessparcours. An ihrer Seite agiert die Sopranistin Inga Schäfer und ist als Anna 2 ganz der Rendite verpflichtet, warnt aber auch vor den Versuchungen des Kapitalismus.

Eine nette Schwester ist das, gleichzeitig Zuhälterin und Beichtmutter. Die weiß, was sie tut, die Kleinbürgerfamilie im Hintergrund dagegen nicht. Dazu agieren die Sänger Roberto Gionfriddo (Vater), Jin Seok Lee (Mutter), Junbum Lee (Bruder 1) und John Carpenter (Bruder 2) zu naiv raffgierig. Manchmal schaltet man als Betrachter in den Pandemie-Modus und denkt, die da oben auf der Bühne kommen sich aber verdammt nahe, Mundruczó hat sie aber so raffiniert inszeniert, dass sie sich nie direkt gegenüber stehen. Covid 19-Tröpfchen, so sie denn vorhanden sein sollten, hätten sicherlich keine Chance, sich irgendwo einzunisten.

© SZ vom 21.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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