Theater:Sehr gut aufgeräumt

Theater: Krise am Küchentisch: Steffen Höld und Cathrin Störmer als das Ehepaar Krause in "Vor Sonnenaufgang" von Ewald Palmetshofer.

Krise am Küchentisch: Steffen Höld und Cathrin Störmer als das Ehepaar Krause in "Vor Sonnenaufgang" von Ewald Palmetshofer.

(Foto: Sandra Then)

In Basel hat Nora Schlocker Ewald Palmetshofers Gerhart-Hauptmann-Überschreibung "Vor Sonnenaufgang" inszeniert - nun ist die Produktion am Residenztheater zu sehen

Von Egbert Tholl

Ewald Palmetshofers "Vor Sonnenaufgang" kann als Musterbeispiel jener Dramaturgie gelten, die Intendant Andreas Beck in Basel etablierte und die mit ihm nun nach München gewandert ist, begleitet von zahlreichen Schauspielern. Diese Dramatik sieht im Kern vor, dass man bestehende Stücke, zu denen manche Klassiker sagen könnten, in ihrer Textgestalt anpasst an gegenwärtige Notwendigkeiten. Oder auch Moden, Stile.

Im vorliegenden Fall ging es im November 2017 in Basel um Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang", jenes Stück, mit dem die deutsche Gegenwartsdramatik jener Zeit mit Ibsen und Strindberg gleichzog. Das ist nicht stilistisch zu verstehen, sondern von der Bedeutung her. Jedenfalls schuf Hauptmann damals, 1889, eine Urform des naturalistischen Sozialdramas.

Zum Wesen von Urformen gehört nun einmal, dass man, blöder Witz, nach ihnen die Uhr stellen kann. Sprich: Ihre Bedeutung ist von der Zeit, in der sie entstehen, nicht unabhängig. Hauptmann erzählt von schlesischen Bauern, die durch Kohl reich geworden sind; die einfacheren Leute bestellen nicht mehr das Feld, sie arbeiten in der Grube. Und die Familie Krause ist, auch weil sie wohl einige der einfacheren Leute über den Tisch zog, reich geworden. Aber nicht glücklich. Alle außer Helene, Tochter des alten Krause aus erster Ehe, saufen. Manche in pathologischem Maße.

Säufer, von denen einige auch noch (Kunst-)Schlesisch sprechen, Kohlebergbau - da sah Palmetshofer Renovierungsbedarf. Seine Version von "Vor Sonnenaufgang" ist zwar in Struktur und Personal eng an Hauptmann angelegt, aber doch ein völlig eigenständiges Stück.

Man hat gut aufgeräumt im Wohlstand. Krauses haben nun ein mittelständisches Unternehmen, der Vater (Steffen Höld) trinkt immer noch gern einen zuviel und lässt sich von seiner (zweiten) Frau Annemarie (Cathrin Störmer) am Tresen auflesen. Schwiegersohn Thomas Hoffmann (Michale Wächter) führt die Geschäfte und schmiegt sich an die politischen Rechten an, weniger aus Überzeugung denn aus Profitinteressen. Seine Frau Martha (Myriam Schröder), Helenes Schwester, trägt hochschwanger ihren Bauch und ihre psychische Fragilität wie einen immerwährenden Affront spazieren, Helene (Pia Händler) macht was Kreatives, ist dementsprechend pleite, erwartet ihre Tantenpflichten, will aber lieber gar nicht hier sein. Dann kommt ein Jugendfreund von Thomas vorbei, er heißt Alfred Loth (Simon Zagermann), und alles bricht auseinander.

Nora Schlocker, deren Inszenierung von nun an am Residenztheater zu sehen ist, und zwar komplett mit der Basler Besetzung - sie sind alle mitgekommen -, geht sehr fein mit dem Text um. Dieser ist kunstvoll geschliffen und gedrechselt, taugt aber auch zu einer edlen Variante eines Intellektuellen-Boulevards. Schlocker konzentriert sich auf die Figuren und was sie zu sagen haben, ihr reicht ein schlichtes Haus von Marie Roth, das man von Szene zu Szene leicht verändert sieht, mal von der Terrasse, also von außen her, mal verschiedene Innenräume.

Tatsächlich sagen hier alle ungeheuer viel. Gut, Steffen Höld knurrt eher, das aber schön. Cathrin Störmer verströmt den Optimismus eines Menschen, der längst nicht mehr an das Gute glaubt. Pia Händler, deren Helene an eine Liebesflucht mit Alfred Loth glauben will, gelingt eine in diesem Kontext maximale Natürlichkeit. Ihre Not ist echt. Aber irgendwie wirkt der ganze Abend leicht aseptisch. Sicherlich handwerklich perfekt, aber ein wenig mit Teflon beschichtet.

Paradigmatisch wird das im langen Disput zwischen Thomas Hoffmann und Alfred Loth spürbar. Dieser geriet Palmetshofer im Vergleich mit dem sehr konkreten, sehr dogmatischen Original seltsam seifig. Vielleicht wollen sich die alten, nun einander fremden Freunde nicht wehtun, aber diese Scheu spürt man nicht. Michael Wächter löst diese Ungriffigkeit mit der Leichtigkeit seines versierten Spiels. Simon Zagermann indes kämpft mit der bockig-artifiziellen Sprache - die sich Wächter völlig zu eigen macht - und auch mit der Figur. Einen irgendwie linken Journalisten hat Palmetshofer da geschaffen, der kein Journalist ist und nicht wie einer denkt. Die beiden reden kunstvoll aneinander vorbei, ohne viel Ertrag.

Nimmt das Drama Fahrt auf, spielt Zagermann stumm und allein einen in Liebesratlosigkeit vollendet Hadernden; verliert Martha ihr Kind, zerreißt es Myriam Schröder vor Schmerz. Martha wollte in keine Klinik, aus Angst, dort würde ihre Depression, geerbt von der Mutter, diagnostiziert. Die psychische Krankheit ersetzt hier den Alkoholismus. Und Thiemo Strutzenberger, der den Arzt Schimmelpfennig spielt, schafft dann große Momente umfassender Empathie. Da ist auf einmal nichts mehr lackiert. Dennoch muss man insgesamt sehr genau zuhören. Tut man dies, fallen einem einige Stellen auf, die sich redundant im Vagen verlieren, wo Palmetshofers Fabulierkunst l'art pour l'art ist. Was dem Publikumszuspruch keinen Abbruch tut.

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