Theater:Schöne Stimmen

Die Bühnen zeigen Alltag und echte Menschen, sie experimentieren mit Mikrofonen und Videos. Hat das Theater vor lauter Realitätssucht seine Sprache verloren?

Von Christine Dössel

Sein oder Nichtsein . . ." - jedes Mal, wenn in Ernst Lubitschs gleichnamigem Film der von sich selbst ergriffene Joseph Tura zu seinem Hamlet-Monolog ansetzt, erhebt sich in Reihe zwei ein junger Mann und zwängt sich nach draußen. Er tut das nicht als Missfallensbekundung, sondern weil er sich auf das Stichwort hin heimlich mit Turas Frau trifft. Die Komik der Szene liegt aber gerade darin, dass alle den Störenfried für einen genervt vor dieser Art Schauspielkunst Reißausnehmenden halten - was umso triftiger scheint, als Turas Klischee-Hamlet in Wams und Strumpfhosen deklamationstechnisch ganz großes Geschütz auffährt: Entrückten Blickes dehnt er genüsslich den Diphtong und lässt ihn so dramatisch erzittern, dass das "Seiiin" schier zu eiern beginnt. Der ehedem weit verbreitete Hang eitler Mimen zu Pathos, Lichtdusche und großer Oper wird hier wunderbar aufs Korn genommen. Würde ein Schauspieler heute tremolieren wie Tura, wäre ihm Gekicher sicher. Die Abwanderungsbewegungen im Parkett wären beträchtlich.

Das Ausstellen und singende Deklamieren des Textes, die übertriebene Verdeutlichung des Ausdrucks, das edel-schöne Pathos, der hohe Ton - all das, was noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts als Ausweis höchster Bühnensprechkunst galt und einen Schauspielkünstler wie den legendären Josef Kainz zu einem schier mystisch verehrten Sprech-Gott machte, "als hätte er der Welt die Sprache gebracht wie Prometheus das Feuer" (so der Regisseur Jürgen Fehling), all das klingt in heutigen Ohren fremd, künstlich, kitschig und kommt im deutschsprachigen Gegenwartstheater so gut wie nicht mehr vor. Es sei denn als Mittel der Komik und Ironie. Oder als markig geschmettertes Brachialdeutsch bei Rammstein.

Pathos, durch die Demagogie der Nazis in Verruf gekommen, gilt heute nur noch als "falsch"

Der Schauspieler als tönender Deklamationsvirtuose mit dem Willen zur Erschütterung und Überwältigung hat spätestens seit 1945 ausgedient. Die geschraubte Bühnensprache in der Tradition des feierlichen "Schiller-Tons", wie sie noch bis in die Kaiserzeit vorherrschte, war schon in den Zwanzigerjahren bei Vertretern der Neuen Sachlichkeit wie Bertolt Brecht verpönt. Dieser schrieb, nachdem er einmal einen "Rezitator alten Stils" erlitten hatte: "Ich propagiere Deklamation in offenem, unpfäffischem Ton, mit Vermeidung sonorer Kadenzen, Creszendis und Tremolos."

Brechts episches Theater verlangte nach einer viel nüchternen, auf direkte Kommunikation und soziale Aktion zielenden Sprache, es revolutionierte das seit der Normierung durch Theodor Siebs im Jahr 1898 gebräuchliche Bühnendeutsch. Siebs hatte einst die tadellose Aussprache von Vokalen und Doppellauten geregelt, die Unterscheidung von stimmhaften und stimmlosen Konsonanten. Vieles klang geziert, manches war selbst für Profisprecher unsprechbar.

Nicht nur Brecht räumte damit auf. Der Siegeszug des Rundfunks tat ein Übriges. Pathos, durch die demagogischen Reden in der Nazizeit endgültig in Verruf gekommen, ist seitdem fast ausschließlich negativ konnotiert: Es gilt als "falsch" und als ideologisch verdächtig.

Doch dies ist nur ein Grund, warum sich das Sprechen auf der Bühne rasant verändert hat. Waren im literarischen Texterkundungstheater, wie es Peter Stein, Luc Bondy oder Dieter Dorn seit den Siebzigerjahren pflegten, die brillant artikulierenden Sprachziselierer und psychologischen Einfühlungsspieler gefragt, ist es im postdramatischen Performance- und Diskurstheater der authentische Zeitgenosse mit individuellem Sprachgestus: der Schauspieler als Ich-Performer. Er röhrt, flüstert und singt den Text in Mikros, nimmt zum Gesprochenen ironische Distanz ein, brüllt die Sätze frontal ins Publikum. Möglichst untheatralisch und unpsychologisch soll er rüberkommen, bloß kein "Drama" machen.

Torquato Tasso

Torquato Tasso Oskar Werner als Tasso auf Tournee mit dem Theater Ensemble Oskar Werner.

(Foto: picture-alliance / IMAGNO/Harry)

Exaltation aber darf sein, das zeigt das ausufernde Hysterie- und Überforderungstheater eines Frank Castorf, aber auch die rasenden Turbodiskursschleifen eines René Pollesch: der Schauspieler als Schreihals und Zivilisationsneurotiker, der in einer komplexen, unverständlichen Welt die Vision von Repräsentation, Sinnvermittlung und eines Immer-alles-verstehen-Könnens ad absurdum führt.

Auf vielen Bühnen hat die Sprechkunst, alte Alleskönnerin, die sie ist, die Diktion und Jargons jenem Alltagston angepasst, der sich im postdramatischen Anything-goes durchgesetzt hat: ein möglichst normales, normal gesprochenes - gegebenenfalls gebrülltes, geraunztes, genuscheltes -, gerne auch mal ordinäres, vulgäres, sozial prekäres Umgangsdeutsch. Wenn denn überhaupt Deutsch. Wenn denn überhaupt noch: Sprache. An manchen Häusern, und sie geben sich als die avanciertesten, geht der Trend hin zur internationalen, multilingualen, besser gleich: nonverbalen Video-Tanz-Musik-Performance, die weltweit mühelos verstehbar und vermarktbar ist.

Viele Zuschauer empfinden das als Verfallsgeschichte. Sie klagen nach frustrierenden Theaterabenden, dass auf der Bühne mal wieder nichts zu verstehen war. Dass im Theater immer schlechter gesprochen werde. Dass die Sprache generell auf den Hund gekommen sei. Auch wegen dieser "schrecklichen Mikroports".

Einer der Mitschuldigen an der Mikroport-Plage ist der Belgier Luk Perceval. Nur war es damals keine Plage und keine Mode, sondern einfach sehr subtil und klug, wie er diese Technik 2001 in seiner Inszenierung von Jon Fosses "Traum im Herbst" als einer der ersten im deutschen Stadttheater einsetzte. Die kleinen, den Schauspielern an die Wange geklebten Stimmverstärker, die man vor der Jahrtausendwende allenfalls von Robert Wilson oder der New Yorker Wooster Group kannte, erlauben ein ganz leises, intimes Sprechen. In Jon Fosses stillem Stück über Familie, Trauer und Verlust konnte Perceval so in feinsten Nuancen eine gedämpft-vertrauliche Atmosphäre erzeugen.

Nicht die Mikroports sind also das Problem, genauso wenig wie die Videos, die viele für eine andere Geißel des Gegenwartstheaters halten. Das Problem ist ihr inflationärer, gedankenloser, oft auch sinnloser Einsatz. Oft erzeugen sie keinen innig-privaten, sondern einen sehr verwechselbaren Fernseh- oder Hörspielton. Ein ohnehin schlampiges, verwaschenes Sprechen wird durch Mikroports eher verschlimmert. Und wenn es sehr körperlich wird auf der Bühne, wenn die Darsteller sich schlagen, küssen oder umarmen, verursachen die Minimikrofone nicht selten Knacks- und Schmatzgeräusche oder Rückkoppelungen. Schön ist das nicht.

Sprachverfall? Der Wissenschaftler spricht lieber von "Sprachentwicklung"

Unverständlichkeit aber, woher auch immer sie rühren mag, wird vom Publikum zuallererst den Schauspielern angelastet: Können die überhaupt noch "richtig" sprechen? Andreas Sippel kann darüber herzlich lachen. Seit 30 Jahren ist er Sprecherzieher und Stimmbildner an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule, und in all der Zeit, sagt er, habe sich die Ausbildung in seinem Fach nur unwesentlich verändert. Stimmbildung sei zunächst einmal reine Physik, da werden Muskeln trainiert, nämlich die Stimmbänder, da gehe es um Physiologie und Raumakustik. Sippel vergleicht die solcherart geschulte Stimme mit dem Resonanzkörper eines Instruments: "Es ist völlig egal, ob du auf einer Geige Punk oder Mozart spielst, die Geige bleibt dieselbe."

Entsprechend könnten Schauspieler, je nachdem, wo und wie sie eingesetzt werden, stimmlich dem performativen wie dem psychologischen Spiel genügen. "Das hat nichts mit Ästhetik zu tun, das ist Technik, Handwerk." Alles andere sei dann vielleicht einfach eine Frage der gekonnten oder missratenen Regie. Er jedenfalls erlebe bei den jährlichen Schauspielschultreffen allenthalben "gut bis sehr gut ausgebildete junge Schauspieler". Wenn es überhaupt eine Krise gebe, dann sei dies eine "Krise des Theaters, das seinen ureigenen Mitteln nicht mehr traut", jedenfalls keine Krise der Sprechkraft.

Warum Läuft Herr R. Amok?

Von links nach rechts: ÇigdemTeke, Christian Löber, Walter Hess in: Susanne Kennedys "Warum läuft Herr R. Amok?"

(Foto: JU/Ostkreuz)

Dass zum Beispiel im Theater gerne so getan werde, "als sei man gar nicht im Theater", findet Sippel peinlich. Es gebe da diesen seltsamen Wunsch nach größtmöglicher Natürlichkeit: "Dabei ist die Bühne einer der unnatürlichsten Orte überhaupt."

Die reine Bühnensprache, die einer Norm folgt wie dem Standardwerk von Theodor Siebs, ist heute faktisch passé. Im postdramatischen Theater herrscht eine geradezu babylonische Polyphonie. Man muss das nicht als Verlust beklagen. Man kann die Vielfalt von Sprachen, sprachlichen Mitteln und Sprechformen auch als eine Bereicherung betrachten; umso mehr, als all diese Techniken nebeneinanderher existieren - das wieder Vers und Pathos zulassende Sprechtheater eines Michael Thalheimer neben den Jelinek'schen Textflächenbefragungen eines Nicolas Stemann - und höchst differenziert eingesetzt werden können.

In Susanne Kennedys Inszenierung von Rainer Werner Fassbinders Film "Warum läuft Herr R. Amok?" für die Münchner Kammerspiele tragen die Schauspieler nicht nur Masken, sondern sprechen sozusagen Play-back: Ihr Text kommt vom Band. Ein größerer Abstand zu Schönsprechern wie Kainz oder Oskar Werner ist kaum denkbar - und kaum ein gelungenerer Ausdruck für die Fernsteuerung des Menschen in Fassbinders zwanghaft reglementiertem Soziotop.

Das Theater will vielfach gar kein Theater mehr sein, eher ein Probenraum und Forum für gesellschaftliche Gruppen. Es strebt Authentizität an - mit dem Auftritt von Laien, Migranten, Bürgerchören oder auch "Experten des Alltags". In gewisser Hinsicht ist dies die entgegengesetzte Entwicklung zur Frühzeit der Theatersprache. Die einheitliche Bühnensprache war ja einst ein Beitrag zur Einheit der Nation. Während man in deutschen Landen seit dem 18. Jahrhundert schon sehr einheitlich schrieb, wurde bis ins 19. Jahrhundert noch überall im jeweiligen Dialekt gesprochen. Einzig die Bühnen peilten eine dialektfreie Aussprache an. So verlangte Goethe 1803 in seinen "Regeln für Schauspieler": "Kein Provinzialismus taugt auf der Bühne! Dort herrsche nur die reine deutsche Mundart, wie sie durch Geschmack, Kunst und Wissenschaft ausgebildet und verfeinert worden."

Heute gibt es mit den vielen Prosastoffen, die das Theater verwertet, mit all den Roman- und Filmadaptionen, so viele Spielarten, dass die Theaterwissenschaft gar nicht mehr von Inszenierungen spricht, sondern - nach Erika Fischer-Lichte - von "theatralen Prozessen".

Ein Begriff, den auch Uwe Hollmach verwendet, Sprecherzieher an der Bayerischen Theaterakademie München und Professor für Sprechwissenschaft und Phonetik an der Universität Halle. Am Küchentisch kann Hollmach Stunden damit verbringen zu erläutern, dass das Sprechen auf der Bühne wieder Gegenstand der Forschung geworden ist, an seinem Institut, aber auch am Max-Planck-Institut, etwa im Bereich der Hirnforschung. "Durch die Nähe zur Spontansprache rückt die Aussprache in theatralen Prozessen sogar als eine der Grundlagen für die Standardaussprache ins Blickfeld", frohlockt Hollmach. Heißt: Die Theatersprache gibt Impulse in die Gesellschaft zurück und kann Grundlage für die Weiterentwicklung einer vorbildlichen Aussprache sein. Als Grundlage für eine Standardaussprache dienten in den letzten 80 Jahren ausschließlich die Medien, der Hörfunk vor allem.

Es muss natürlich ein gekonntes, interpretationsfähiges Sprechen sein, kein Privatjargon. Der Fachausdruck dafür lautet: "stilisierte Alltagssprache". Diese klingt zwar wie die ganz gewöhnliche Alltagssprache. Aber der Unterschied zum privaten Sprechen, so Hollmach, liege "in den Gedankenimpulsen, die sich den Zuhörern über die Prosodie vermitteln", also über Rhythmus, Melodie oder Sprechgeschwindigkeit. "Salopp gesagt, ist es ein Gedanken verdichtendes, zielgerichtetes Sprechen in ganz normaler Sprache. Es wird nicht mehr lautlich ausgestellt." Um "schönes Sprechen" geht es dabei nicht. Um Verständlichkeit schon. Sprachverfall? Hollmach spricht eher von Sprachentwicklung. "Sprache braucht Entwicklung, und die sollte man nicht den Regisseuren überlassen." Die Vielfalt auf der Bühne verlange eine Auseinandersetzung mit dem, was als "gutes" oder "schlechtes" Sprechen gilt.

Überhaupt ist der Verdruss gereizter Besucher so alt wie das Theater selbst. Über den später so verehrten Fritz Kortner wurde in den Zwanzigerjahren gelästert: Sein expressives Spiel muss für Traditionalisten ein Schock gewesen sein. In den Siebzigerjahren wurde Ulrich Wildgruber, als Schauspieler ein Naturereignis, als Nuschler und Nichtskönner beschimpft. Dabei war es gerade sein wildes Spiel, das Peter Zadek so wunderbar einzusetzen wusste. Stilmittel und Sprechweisen werden sich immer verändern - solange das Theater eine lebendige Kunst ist.

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