Don Juan, das weiß doch jeder, ist ein Frauenheld und Schürzenjäger, Herzensbrecher und Ladykiller. Tausende Seiten haben ihm Dichter und Literaten gewidmet und lustvoll sein Sündenregister angeprangert. Bei Mozart werden ihm gar 2065 Eroberungen bescheinigt - heute würde man schlicht von toxischer Männlichkeit sprechen. Dem Regisseur und Bühnen(bild)künstler Achim Freyer kam jedoch bei der Lektüre von Molières "Don Juan" kein passendes Bild vom Casanova in den Kopf. Also befragte er die Stuttgarter Bevölkerung, wer oder was dieser Don Juan sei. Aber auch deren Antworten halfen nicht weiter, die meisten verwiesen auf Stars und Promis.
Freyer inszenierte das Stück trotzdem, allerdings ohne die Hauptfigur. Der Regie-Altmeister hat den Fünfakter ordentlich abgespeckt und den Don Juan kurzerhand durch eine Marionette ersetzt. So wackelt nun ein dürrer Lattenheini unterm Federhut mit seinen schlaksigen Gliedmaßen, die von höherer Stelle gesteuert werden. Keine nächtlichen Stelldicheins und hitzigen Übergriffe mehr, keine polternde Machomännlichkeit, auch keine moralinsaure Selbstgerechtigkeit der Tugendwächter. Sogar der Klagegesang der verlassenen Donna Elvira, den hier ein dreiköpfiger Frauenchor anstimmt, wurde auf ein kurzes, lästiges Gezeter geschrumpft.
Freyer schafft eine Art Kasperletheater-Fantasiewelt. Das ist allerfeinstes Handwerk
In 75 anregenden Minuten schnurrt der Mythos über die Bühne und bringt prägnant auf den Punkt, was Psychologen gern als Gegenübertragung bezeichnen: Don Juan ist nichts als eine Projektion, die sich aus den eigenen verdrängten Begierden speist. Deshalb übernehmen die anderen Figuren die Texte des Casanovas - so wird der Dialog zum Beispiel zu einer Selbstbefragung der Charlotte (Celina Rongen), einem Bauernmädchen, das sich dem hohen Herrn offensiv an den Hals wirft. Wenn Don Juans Diener (Matthias Leja) behauptet, "Ich kann meinen Don Juan auswendig", ahnt man, wie genau er ihn studiert hat und selbst einer sein will, für den nichts "zu heiß oder zu kalt" ist und der weder vor Stand noch Religion zu Kreuze kriecht.
Und doch fühlt Freyer sich Molière verpflichtet, hält sich an die Stationen des Lustspiels und nimmt wie das Original auch Anleihen bei der Commedia dell'arte. Die Fantasiewelt, die Freyer kunstvoll skizziert, ist komplett in Schwarz-Weiß gehalten und steckt in einer Art Kasperletheater, in dem kuriose Wesen zwischen Mensch und Puppe ihr Unwesen treiben. Der Kaufmann Sonntag (Klaus Rodewald) hat viele Gesichter und noch mehr Hände, um zu raffen, was zu holen ist. Es ist ein Spiel im Spiel, hinter dem sich kurzzeitig auch eine Theatertruppe zu erkennen gibt, die mit ein paar Taschenspielertricks ihren Budenzauber veranstaltet. Das freilich hat man schon häufiger gesehen. Freyer, inzwischen 87 Jahre alt, bleibt seinen über Jahrzehnte erprobten ästhetischen Mitteln treu. Aber er ist auch ein Routinier, der um Timing und Rhythmus weiß und Motive elegant und unprätentiös platziert. Das ist allerfeinstes Handwerk.
Wenn die klapprige Don-Juan-Figur plötzlich mit ihren viel zu langen Armen zu großen Gesten ausholt und ihre Beschwörungen mit reichlich Hall durch den Saal schweben, dann stellt sich eine betörende Magie ein. Bunte Punkte tanzen über den Bühnenhimmel, sogar im Zuschauerraum leuchten fröhliche Farben und symbolisieren, dass das Konzept Don Juan eben auch Lebendigkeit verspricht, süßes und abgründiges Erleben jenseits des gesellschaftlichen Reglements, das nur starres Schwarz und Weiß kennt.
Selbst wenn dieser "Don Juan" keine neue Bildsprache bieten mag, erweist sich Achim Freyer doch als wacher Kopf, der sich schlicht weigert, wieder nur das Stereotyp fortzuschreiben, das hier männliche Täterschaft und dort weibliche Opfer sieht. Freyer redet der kritischen Selbstreflexion und einer konsequenten Differenzierung das Wort - womit er dann letztlich doch einen Kommentar abgegeben hat zu den aktuellen Debatten rund um "Me Too" und toxische Männlichkeit.