Süddeutsche Zeitung

Theater:Resonanzraum der Wirklichkeit

Jessica Glause inszeniert David Grossmans "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" am Schauspiel Frankfurt.

Von Nicolas Freund

Wenn niemand da ist, kann dann etwas passieren? Das ist ja eigentlich eine Frage aus dem übersichtlichen Philosophiekanon der Kalenderweisheiten und Glückskekssprüche. Jessica Glause aber stellt sie trotzdem, in doppelter Hinsicht und ohne esoterischen Unterton: Wenn man sich den Strukturen entzieht, kann man sie dann verändern? Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin. Die zweite Ebene ist eine dramatische, die ihrer Inszenierung von David Grossmans Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" am Schauspiel Frankfurt zugrunde liegt: Kann man ein Stück ohne eine eindeutige Hauptfigur auf die Bühne bringen?

Im August 2006 fiel David Grossmans Sohn Uri im zweiten Libanonkrieg, als sein Panzer von einer Rakete getroffen wurde. Den Tod seines Kindes und die Wunden, die der Krieg im ganzen Land geschlagen hat, verarbeitete Grossman in dem Roman, an dem er bereits drei Jahre geschrieben hatte, als mitten in der Nacht die Kameraden vom Stützpunkt seines Sohnes an der Wohnungstür klingelten. Damit änderte sich, wie Grossman im Nachwort schreibt, "der Resonanzraum der Wirklichkeit". Der Roman ist auch eine vielverzweigte Liebesgeschichte, eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Israelis zu den Arabern und eine literarische Bearbeitung der Wüstenlandschaft, aus der die manchmal so trocken gehauchten Sprachen dieses Landes hervorzugehen scheinen. Jessica Glause hat eine komplexe weibliche Charakterstudie, den Aspekt der titelgebenden Frau, ins Zentrum ihrer Inszenierung gestellt. Die ganze Bühne von Mai Gogishvili ist von hautfarbenen Schaumstofflappen bedeckt. Sind das die Dünen der Wüste von Galiläa? Ein Teller Carpaccio? Hautschuppen in Großaufnahme? Im Text stehen das Land und die Menschen, besonders die Soldaten mit ihren Tarnuniformen, in einem symbiotischen Verhältnis zueinander. Später landen große Steine in dieser fleischigen Wüstenlandschaft, durch die sich gleich vier Frauen in Trainingsklamotten und grauen Hausfrauenkleidern kämpfen. Sie alle sind Ora, die Frau, die vor der Nachricht flieht, dass ihr Sohn Ofer im Krieg für dieses Land gefallen ist. Und gleichzeitig ist keine von ihnen Ora. Und das ist ein Problem.

Am Anfang, im fast absurden Vorspiel des Textes, ist Eva Bühnen noch alleine die junge Ora, die während eines Raketenangriffs auf einer evakuierten Krankenstation ihren späteren Partner Avram kennenlernt. Die junge Ora ist emotional und schnippisch, Bühnen spielt sie mit naiver Neugier und durchgehender Spannung, sodass sie fast zu explodieren scheint, wenn ihr etwas gefällt. Diesen Charakterzug Oras behält sie auch, wenn die anderen drei dazustoßen: Altine Emini, die in dem Quartett etwas untergeht, Christina Geiße, als zweifelnde und verzweifelnde ältere Ora, sowie die oft aufbrausende Sarah Grunert, die für eine Art Ora-Ideal stehen könnte. Nur, das sind schon Deutungen. Es macht viel Spaß, den vier beim Nacherzählen des Romans zuzusehen, wie sie sich an dem Sohn Ofer abarbeiten, der gerne ein beinharter Soldat sein möchte und den David Campling auch so kompromisslos spielt. Oder wie sie mit Matthias Redlhammer, der durchgehend Avram spielt, komische Momente provoziert. Meist handelt, spricht, erlebt eine der vier - die anderen reagieren, kommentieren oder ignorieren.

Das könnte eine sehr komplexe und trotzdem plastische Charakterzeichnung sein, nur wirken die vier untereinander zu austauschbar. Klare Aspekte der Figur sind ihnen nicht zuzuordnen, jede darf mal laut oder zurückhaltend sein, deshalb weiß man in den Aktionen und Reaktionen nie, wie diese in ein Gesamtbild einzuordnen sind. Das hat den eigenartigen Effekt, dass die Hauptfigur, obwohl sie gleich viermal auf der Bühne steht, nie wirklich anwesend ist. Das Stück wirkt dadurch noch nacherzählter, als es bei Romanadaptionen ohnehin meist der Fall ist.

Die Inszenierung hätte noch besser funktionieren können, wenn sie sich mehr auf die Stärken des Theaters als auf den Text verlassen hätte. Das Zusammenspiel der vier Oras birgt großes Potenzial, wenn sie sich zum Beispiel verbal die Packliste für den eigentlich mit Ofer geplanten Ausflug nach Galiläa zuwerfen, die genauso im Roman vorkommt, geht der Text in der Bühnensituation auf. Am intensivsten und emotionalsten gelingt der seltene Musikeinsatz. Jessica Glauses Adaption von David Grossmans Roman bleibt hinter den Möglichkeiten der Bühne und der eigenen Ideen zurück.

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Quelle:
SZ vom 15.01.2019
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