Theater:Reif für den Inselhain

Klassisch, bescheiden, gut: Ivan Panteleev inszeniert Goethes "Iphigenie auf Tauris" am Deutschen Theater Berlin. In der Titelrolle: Kathleen Morgeneyer.

Von Peter Laudenbach

Für Friedrich Schiller war Goethes "Iphigenie auf Tauris" ein Werk, das aus der "gegenwärtigen Epoche" herausfalle, ein Fremdkörper im Theaterbetrieb der damaligen Hoftheater. So ein merkwürdiger Fremdkörper ist jetzt auch Ivan Panteleevs Inszenierung des Stücks am Deutschen Theater Berlin.

Panteleev macht etwas, was im heutigen Theaterbetrieb fast schon störrischen Eigensinn beweist: Er spielt einen klassischen Text, ohne ihn zu kommentieren oder demonstrieren zu wollen, dass der Regisseur eigentlich klüger ist als der Autor. Ja, er lässt sich sogar auf die antikisierende Verssprache und das Humanitätspathos Goethes ein, ohne es zu ironisieren oder die geschlossene Form des Schauspiels mit Fremdtexten aufzubrechen. Wie schon in seiner Berliner "Warten auf Godot"-Inszenierung und in seinem "Philoktet" am Münchner Residenztheater folgt Panteleev uneingeschränkt der Vorlage: Goethe pur, direkt und ohne Reader's Digest-Verkürzungen vom Reclamheft auf die Bühne. Und das, obwohl die Exilsituation Iphigenies ("Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern ein einsam Leben führt") doch für allerlei zeitgenössische Flüchtlingsassoziationen herhalten könnte.

Noch erstaunlicher als die Bescheidenheit vor dem Großklassiker ist, dass diese Nicht-Interpretation dank der Schauspieler über weite Strecken funktioniert und nur selten, etwa in den Dröhn- und Brüllanfällen von Pylades (Camill Jamal) die Grenze zur unfreiwilligen Komik streift. Die Schauspieler können etwas, was fast so selten geworden ist wie der demütige Umgang der Regie mit der Stückvorlage: Sie sprechen die elegant rhythmisierten Jamben, ohne sie mechanisch zu rattern. Und sie denken, was sie sagen.

Iphigenie auf Tauris

Kathleen Morgeneyer trägt den Abend und macht aus der Klassiker-Ikone Iphigenie einen lebendigen Menschen.

(Foto: Arno Declair)

So wirken selbst die wie in Marmor gemeißelten Formeln ("Ein unnütz Leben ist ein früher Tod") nicht wie gestelzte Sentenzen, sondern wie Gedanken, die gerade erst entstehen. Ihre Schönheit entfalten sie in der Selbstverständlichkeit, mit der sie gesprochen werden. Ein Satz wie Iphigenies "Den festen Boden deiner Einsamkeit musst du verlassen! (. . .) trüb und bang verkennest du die Welt und dich" ist hier kein erhabenes Klassiker-Zitat, sondern eine Wahrheit.

Vor allem der auch in ihren anderen Rollen am Deutschen Theater ziemlich großartigen Kathleen Morgeneyer als Priesterin Iphigenie gelingt es, ihre Figur in feinen Schattierungen zu zeigen und das Korsett der hohen Form sozusagen zu verflüssigen. Oliver Stokowski, der König Thoas wie einen nachdenklichen Bauern spielt, und Moritz Grove als dauerüberhitzter Orest sind Kontrastfiguren zur leicht entrückten Iphigenie. So gekonnt die Spachbehandlung, so konfus und hilflos sind leider die szenischen Zeichen. Als Ausdruck größerer Erregung schmieren sich die Figuren gerne weiße Farbe ins Gesicht. Ansonsten wird viel herumgestanden oder wahlweise auf dem Boden gesessen. Die Bühne (Johannes Schütz) ist ein großer Tisch, dessen Bedeutung als Ersatz für Iphigenies Inselhain sich nicht erschließt. Vielleicht wurden die Bäumchen des Hains ja gefällt und zu Tischbeinen verarbeitet.

Aber Kathleen Morgeneyer trägt den Abend. Sie befreit Iphigenie von der Leidens- und Menschheitsversöhnungsikone. Wir sehen einen lebendigen Menschen. Selbst der Prolog, den sie als szenische Pathosformel sehr zerdehnt und wie statuarisch eingefroren spricht, ist kein feierliches Ausrufezeichen, sondern der Beginn einer langen Gedankenbewegung, der man über die zweieinhalb Stunden der Aufführung immer wieder gebannt folgt. Das ist keine kleine Leistung, denn diese Iphigenie ist als erst von ihrem Vater Agamemnon dem Kriegsglück Geopferte, dann vom Opferaltar von der Göttin Diana Gerettete, aber auf eine ferne Insel Verbannte erkennbar die Kopfgeburt eines Autors, der gerade die antiken Tragödien für sich entdeckte. "Ich schrieb meine ,Iphigenie' aus einem Studium der griechischen Sachen, das aber unzulänglich war", gab Goethe ein Vierteljahrhundert nach der Entstehung des Stücks zu Protokoll. Die Anti-Tragödie will den Schuldzusammenhang und heillosen Schrecken der antiken Vorlage als Edelmut-Erlösungsmärchen vom Verhängnis befreien. Kein Wunder, dass sie dem Autor selbst als "ganz verteufelt human" etwas suspekt war. Dieser Überkonstruiertheit des Stücks entkommt auch Panteleev nicht.

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