Süddeutsche Zeitung

Theater:Rampensaukönigin der Herzen

Nöte und Möglichkeiten des Boulevardtheaters: Katharina Thalbach inszeniert in Berlin den "Mord im Orientexpress".

Von Peter Laudenbach

Was hilft gegen den ewigen Corona-Blues? Ein stilsicher vollführter Mord ist nicht das schlechteste Antidepressivum, zumindest wenn der Mord im Orientexpress stattfindet, von Katharina Thalbach inszeniert und mit ihren Freunden auf der Revue-Bühne eines Berliner Boulevard-Theaters aufgeführt wird. Thalbach, die Expertin eines charmant überdrehten Volkstheaters, taucht die Agatha-Christie-Nostalgie in kunterbunten Retro-Pop und beflügelt das alles mit fröhlicher Selbstironie, Wumms und Gesangseinlagen. Die Kostüme des Modedesigners (und alten Thalbach-Freundes) Guido Maria Kretschmer schillern strassbesetzt und mit Freude an Schaureiz und Glamour, lauter Zitate der Show- und Modewelten um 1920, wie es sich in der Revue gehört mit erhöhtem Knalleffekt.

Der schönste Moment dieses an schönen Momenten reichen Abends ist vielleicht der erste, als Thalbach im Kostüm des Hercule Poirot auf der Bühne des Schiller-Theaters vor den roten Theatervorhang tritt. Bevor sie sich mit sehr lustig nach Berlin klingendem französischem Akzent vorstellen kann ("Ich bin Hercule Poirot, der größte Detektiv der Welt und ungeheuer eitel..."), brandet ihr ein warmherziger Beifall entgegen. So klingt Wiedersehensfreude und die Erleichterung darüber, dass es irgendwie weitergeht mit dem Theater im Allgemeinen und dem Thalbach-Theater im Besonderen. Die sichtlich berührte Thalbach strahlt ins Publikum, die Zuschauer strahlen mindestens genauso glücklich zurück. Und ganz nebenbei wissen oder ahnen die meisten, dass von dieser Premiere wahrscheinlich die Zukunft des größten und ältesten Boulevardtheaters des Landes abhängt.

Exakt an diesem Theater startete vor 34 Jahren Katharina Thalbachs furiose Regie-Karriere

Denn produziert hat die Sause im Berliner Schiller Theater nicht eines der hochsubventionierten Staatstheater, sondern die Komödie am Kudamm. Das Privattheater muss 85 Prozent seines Budgets an der Abendkasse erwirtschaften. Nur zum Vergleich: Bei den Staatstheatern sind es etwa 20 bis 25 Prozent. Der Wegfall der Karteneinnahmen im Lockdown war für das Boulevardtheater existenzbedrohend. Die Thalbach-Premiere, mit Produktionskosten von rund einer Million Euro die größte und teuerste Inszenierung, die das Theater je gewagt hat, hätte zu Beginn des ersten Lockdowns rauskommen sollen. Mitten auf der Zielgerade, kurz vor der Premiere, hat die Pandemie den Orientexpress brutal gestoppt. Seitdem hing das Theater in der Warteschleife.

Fragt man Martin Wölffer, den krisenerprobten Intendanten und in dritter Generation Betreiber der Kudamm-Komödie, wie er das theater- und einnahmenlose Pandemie-Jahr überstanden hat, kommt erst ein müder Seufzer, aber dann sofort ein sehr klarer Satz: "Ich will mich nicht beschweren. Die Politik, vor allem der Berliner Kultursenator, hat uns sehr schnell und entschlossen geholfen. Das können Sie ruhig schreiben. Ich weiß nicht, ob wir ohne Klaus Lederers Engagement noch da wären." Ein Intendant, der nicht jammert, sondern sich bei der Politik bedankt und einfach irgendwie tapfer weitermacht! Dass er selbst im letzten Jahr sein Gehalt deutlich reduzieren musste, sagt er erst, wenn man ihn danach fragt - ist halt so, kein Grund zu klagen, Hauptsache, es geht weiter.

Auch sonst kann man von Martin Wölffer lernen, wie Anstand geht. Der Prominenzgrad im "Orientexpress"-Ensemble ist durchaus unterschiedlich, trotzdem bekommen alle die gleiche Gage. Es arbeiten ja auch alle zusammen hart und beschwingt. Dank der guten Belüftungsanlage hätte Wölffer Karten für alle Plätze im Zuschauerraum verkaufen dürfen, das Geld hätte er dringend gebraucht. Aber weil viele Karten im Vorverkauf rausgingen und die Käufer von Abstandsregeln im Parkett ausgegangen sind, hat das Theater seine Besucher gefragt, ob sie mit einer Vollauslastung des Zuschauerraums einverstanden seien. Die Reaktion war eindeutig: Bitte nicht. Wölffer nimmt sein Publikum ernst, es blieb also aus Hygiene- und Abstandsgründen bei vielen leeren Sitzen im Parkett. Pro Aufführung kann das Theater so statt rund 1000 nur rund 500 Karten verkaufen, aber die Zuschauer fühlen sich nicht unwohl und sind sicherer vor einer Ansteckung.

Thalbachs Bühnenbildner Momme Röhrbein hat für die Fahrt im Orientexpress eine raffiniert verspielte Bühne mit lustigen Gimmicks gezaubert, unten der luxuriöse Breitwandkino-Speisewagensalon, oben die holzgetäfelten Schlafwagen. An den Seiten ragen große Lokomotiven in den Zuschauerraum und sorgen mit ihren drehenden Rädern und ins Publikum gerichteten Scheinwerfern für Modelleisenbahn-Amüsement. Die goldenen Seidenroben rauschen, die verzickten Diven räkeln sich in den Sesseln des Speisewagens, Monsieur Bouc, der Herr der Orientexpress-Betreibergesellschaft (Tobias Bonn) sieht aus wie Peter Alexander und singt auch so, nur lustiger. Der auf interessante Weise gealterte Vamp Helen Hubbard, eine Blondine, die ihre Whiskys schon zum Frühstück gurgelt und ihre Ex-Gatten zwecks besserer Übersicht durchnummeriert, hat die Ehre, von Christoph Marti mit schönstem Drag-Könnertum gespielt zu werden - große Freude!

Es ist ein Abend der Thalbach-Gang. Ihre Tochter Anna Thalbach gibt die verliebte Ehebrecherin Mary Debenham, ihre Enkelin Nellie Thalbach eine dubiose Gräfin. Max Gertsch schenkt seinem Schaffner aalglatten Charme, die wunderbare Andreja Schneider spielt ihre russische Prinzessin als Drachen. Weil es bei Boulevardtheater-Mordermittlungen auf das gute oder zumindest lustige Aussehen ankommt, hatten die Perückenmacher ordentlich zu tun: Die Frisuren türmen sich zu abenteuerlichen Vogelnestern, die Bärte der Herren überbieten mühelos jedes Hipsterbärtchen.

Der schönste Bart, ein kunstvoller Moustache, schmückt natürlich Hercule Poirot, Agathe Christies schrulliges Detektiv-Genie. Katharina Thalbach schiebt als Poirot das ausgepolsterte Bäuchlein im altmodischen schwarzen Dreiteiler mit Würde durch den Salon, zwirbelt sich genießerisch die Bartspitzen, lässt auch mal melancholischen Momenten ihren Lauf, blinzelt kokett wie Charlie Chaplin und weiß in jedem Moment, wie sie die Rampensaukönigin der Herzen geben muss. Kleine sentimentale Fußnote: Exakt an diesem Theater, in der Werkstatt des Schiller-Theaters, startete vor 34 Jahren Thalbachs furiose Regie-Karriere mit Shakespeares "Macbeth" - Kathie is coming home! Die Zukunft der ins Schiller-Theater umgesiedelten Kudamm-Komödie dürfte fürs Erste gesichert sein: Der "Orientexpress" ist auf Wochen ausverkauft.

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